BuddhaWeg-Sangha

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Das Gyoji in Buchenwald

 

Als ich mich entschlossen habe, ein Teisho hier in Buchenwald zu halten, war für mich klar, dass es darum gehen muss, warum es so wichtig ist, hier zu praktizieren.

2001 haben Heinz-Jürgen und ich mit der Praxis hier in Buchenwald begonnen. Sie hat sich über einen Zeitraum von 16 Jahren weiterentwickelt, durch unsere tiefer werdenden Erfahrungen, durch die Erfahrungen der Teilnehmenden, durch die Begegnung mit Menschen, die das Lager überlebten, und mit Menschen, die an diesem Ort arbeiten. Aber von Anfang an war Zazen die Quelle unserer Praxis. Die anderen Praxisformen veränderten sich über die Jahre, aber sie waren und sind ungetrennt mit Zazen verwoben.

Die Zazen-Praxis gab es schon vor Buddha Shakyamuni, sie wurde von allen Dharmavorfahren und Dharmavorfahrinnen bis zu uns weitergegeben und wird auch noch nach uns existieren.

In Buchenwald zu praktizieren hat mein Verständnis, den Buddha-Weg wirklich zu gehen und die Bodhisattva-Gelübde wirklich zu leben, enorm erweitert.

Dieses Teisho wird um das Gyoji der Praxis gehen, die sich endlos in Raum und Zeit verwirklicht.

Ich bitte Euch dieses Teisho als momentanen Stand meines Verständnisses des Buddha-Dharmas und als meine momentane Sicht auf die Wirklichkeit zu hören. Die Wirklichkeit selbst ist nicht ausdrückbar, sondern nur erfahrbar.


Was ist Gyoji?

Meister Dogen hat in der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts, den Zen-Weg, den wir heute in Europa praktizieren, von China nach Japan gebracht. Sein Hauptwerk, das Shobogenzo, umfasst Lehrreden und Praxis-Anleitungen, vorwiegend für Mönche. Zwei Kapitel widmete er dem Gyoji.

Gyoji wird im Shobogenzo mit Das Bewahren der reinen Praxis übersetzt: Gyo ist 'reine Praxis', 'reines Tun' oder 'reines Handeln'. Ji bedeutet 'erhalten' oder 'bewahren': Das Bewahren der reinen Praxis. - Meister Deshimaru, der vor 50 Jahren den Zen-Weg, den wir praktizieren, von Japan nach Europa brachte, übersetzte gyoji mit 'die Praxis wiederholen' oder 'fortführen'.


Gyoji wird auch als 'Ring des Weges' beschrieben, der aus dem Bewahren der reinen Praxis der Buddhas und Vorfahren besteht und sich ohne Anfang und Ende fortsetzt. Dieser Ring, diese Praxis des Weges ohne Anfang und ohne Ende, bedeutet, dass es keine Trennung zwischen unserer Praxis und unserem Handeln gibt: Wir praktizieren nicht, um zu erwachen, sondern unsere Praxis ist Ausdruck des Erwachens. Praxis und Handeln oder Tun durchdringen sich und sind Ausdruck der reinen Praxis.

Meister Dogen sagt im Shobogenzo Gyoji: „Das Wesentliche ist, dass im Augenblick meiner Praxis die ganze Erde und der ganze Himmel in allen zehn Richtungen vollkommen mit meinem Tun vereint sind (…)“.

Das heißt: Unsere Praxis-Erfahrung heute, hier und jetzt, ist uns nur möglich durch die Weitergabe der Praxis, durch das Bewahren und die Wiederholung der Praxis der Buddhas und Vorfahren. Und andersherum aktualisiert sich die Praxis der Buddhas und Vorfahren durch uns hier, heute und jetzt. Dies ist mit dem Ring des Weges, dem Ring der Praxis, gemeint. Die Praxis ohne Unterbrechung.

So ist auch unsere Praxis hier in Buchenwald Teil dieses Rings, indem wir hier Augenblick für Augenblick die reine Praxis der Buddhas und Vorfahren aktualisieren.


Was praktizieren wir?

Meister Dogen legte in seinen Unterweisungen immer den größten Wert auf die unerlässliche Bedeutung und Erfahrung von Zazen. Er schätzte aber auch das Handeln im täglichen Leben sehr hoch ein. Er sah beides als nicht voneinander getrennt an.

Im Folgenden möchte ich die wesentlichen Punkte unserer Zazen-Praxis erklären, sie aber auch jeweils in Bezug zu unserem Handeln stellen, zu unserem Handeln hier in Buchenwald.


Shikantaza

Shikan bedeutet 'nur', 'ganz und gar', oder wie Heinz-Jürgen es nennt 'restlos'. Za bedeutet 'sitzen'. Shikantaza bedeutet also 'nur sitzen', 'ganz und gar sitzen', 'restlos sitzen'.


Während wir in Zazen sitzen, kehren wir immer wieder zur Konzentration auf die Körperhaltung und zur Wahrnehmung der Atmung zurück. Wir nehmen Gedanken und Gefühle, die auftauchen, wahr, aber wir folgen ihnen nicht. Auf diese Weise sind wir völlig eins mit jedem Augenblick, völlig wach, völlig aufmerksam. Wir begnügen uns damit, ganz dieser Augenblick zu sein, ohne etwas hinzuzufügen, ohne etwas abzulehnen. Wenn wir so aufmerksam praktizieren, können keine leidvollen Worte, Gedanken oder Handlungen entstehen. An einem Ort wie Buchenwald, in dem so viel Leid durch Worte, Gedanken und Handlungen ausgelöst wurde, ist shikantaza eine hilfreiche Praxis.

Aber auch das gemeinsame Einnehmen der Mahlzeiten, die Zeremonien, das Rezitieren, die Niederwerfungen, die Arbeit auf dem Gedenkweg und in der Restaurierungswerkstatt, das Einander-zuhören im Zuhörkreis, das Lesen der Namen von Opfern, alles wird shikan: shikan-essen, shikan-rezitieren, shikan-arbeiten, shikan-sein, einfach dies.

Während des Buchenwald-Sesshins üben wir dies Augenblick für Augenblick gemeinsam und in Harmonie mit den anderen Teilnehmenden. Alle Phänomene, die uns während der Tage begegnen, sind Gelegenheiten nur dies zu praktizieren, ohne Anhaftung, ohne Ablehnung.


Mushotoku

Mushotoku bedeutet, dass wir nicht praktizieren, um irgendein persönliches Ziel, einen persönlichen Profit oder einen persönlichen Zweck zu erreichen. Zazen zu praktizieren bedeutet, jede Form von ich-bezogenem Wollen loszulassen. Wir benutzen Zazen nicht, um unsere persönlichen Wünsche und Vorstellungen zu erfüllen. Die reine Erfahrung von Zazen übersteigt all die persönlichen Wünsche und Vorstellungen. Weil wir Zazen nicht mit unseren persönlichen Absichten belegen, wird es weit, offen, allumfassend.

Natürlich gibt es persönliche Gründe und Motive, vielleicht auch Wünsche, an diesem Sesshin teilzunehmen. Diese sind gut: Sie bringen jede und jeden einzelnen von uns dazu, an dem Sesshin teilzunehmen, Zazen zu praktizieren, die Bodhisattva-Gelübde zu verwirklichen. Aber in der Praxis selbst, Augenblick für Augenblick, lassen wir all dies los. Dann ist Zazen wirklich Zazen, dann ist jede Handlung hier an diesem Ort nur diese Handlung.

Kein Wollen, nur sein mit dem, was ist, mit dem, was man tut, und mit denen, mit denen man es tut. Jeden Augenblick des Sesshins. Immer hier und jetzt.


Hishiryo

Hishiryo heißt, 'jenseits von denken und nicht-denken', 'denken aus der Tiefe des Nicht-Denkens heraus.'

Wir sagen in den Unterweisungen immer: „Lasst die Gedanken vorüberziehen“, oder „denkt nicht“. Unser Gehirn produziert fortwährend Gedanken, ob wir wach sind oder schlafen, genauso wie unser Körper ständig Zellen produziert oder abstößt. Wir können nicht willentlich nicht denken, denn auch der Wunsch nicht zu denken, wäre ein Gedanke. Worum geht es also bei Hishiryo?

Indem wir nicht bewusst Gedanken folgen, indem wir nicht nach-denken, schaffen wir Raum in unserem Geist. In diesem Freiraum können Gedanken aus unseren tiefsten Tiefen aufsteigen. Aber auch ihnen folgen wir nicht, sondern kehren wieder zur Konzentration auf die Körperhaltung und zur Wahrnehmung der Atmung zurück. Wenn wir den Gedanken nicht anhaften und sie auch nicht verdrängen, sondern ihnen einfach nicht folgen, sie vorbeiziehen lassen, wie Wolken am Himmel, wird der Geist weit und offen. Verfügbar für das was ist, ohne Zuneigung, ohne Abneigung. Jeden Augenblick integrierend, so wie er ist.

Gerade an einem Ort wie diesem hier, der kein neutraler oder schützender Ort ist, wie es ein Dojo ist, ist es während Zazen und während aller anderen Praktiken wichtig, sich nicht von Gedanken und Emotionen mitreißen zu lassen.

Das heißt nicht, dass an diesem Ort keine Gedanken und Emotionen auftauchen dürfen. Wir nehmen sie wahr, aber wir klammern uns nicht an sie.

Da hier in Buchenwald mehr Gedanken und starke Emotionen entstehen können, als auf anderen Sesshin, haben wir jeden Abend die Zuhörkreise. Es ist klar, dass es hier an diesem Ort einen Austausch geben muss. Aber auch in diesen Zuhörkreisen praktizieren wir Mushotoku und Hishiryo. Wir praktizieren die Praxis des reinen Zuhörens.


Die Bodhisattva-Gelübde

In unserer Praxis hier geht es auch um die Verwirklichung der Bodhisattva-Gelübde. Als Bodhisattvas werden in der Mahayana-Tradition Wesen bezeichnet, die das Erwachen Buddhas erlangt haben oder sich darum bemühen, es zu erlangen, aber darauf verzichten, in das Nirvana einzutreten, so lange sie nicht allen fühlenden Wesen geholfen haben, sich aus dem Kreislauf des Leidens, dem Samsara, zu befreien.

In unsrer Praxis gibt es die Bodhisattva-Zeremonie. In dieser Zeremonie empfängt man zehn Lebensregeln und gelobt die Bodhisattva-Gelübde zum Wohle aller Wesen zu praktizieren. Aber auch ohne Zeremonie kann man die Bodhisattva-Gelübde praktizieren.

Morgens und abends rezitieren wir diese Vier großen Gelübde:

Unzählig sind die lebenden Wesen. Ich gelobe, sie alle zu befreien.

Unerschöpflich sind die leidschaffenden Täuschungen. Ich gelobe, sie alle zu verwandeln.

Unermesslich sind die Pforten des Dharmas. Ich gelobe, sie ganz zu durchdringen.

Unbegrenzt ist der Buddha-Weg. Ich gelobe, ihn ganz zu verwirklichen.

Es würde den Rahmen des Vortrags sprengen, jetzt alle Gelübde zu kommentieren. Aber die Gelübde machen klar, dass unsere Praxis eine sehr weite Dimension hat, eine Dimension, die über uns hinausgeht und die Befreiung aller Wesen im Fokus hat, indem wir Mitgefühl und Weisheit praktizieren.

Wenn Zazen die Quelle unserer Praxis ist und die Handlung die Verwirklichung unserer Praxis, dann sind die Bodhisattva-Gelübde die Nahrung und der Weg, dies umzusetzen. Und zwar zum Wohle aller Wesen, ohne Trennung, ohne Unterschiede. Dies war auch schon die Praxis der Buddhas, der Vorfahren und Vorfahrinnen.


Buchenwald als Dojo – die Welt als Kloster

Die meisten von uns sind es gewohnt, in der Stille und Konzentration von Dojos zu praktizieren. Möglichst wenig soll uns von der Praxis ablenken. Wir machen Gesten, folgen den Dojo-Regeln und überlassen uns Zazen auf dem Kissen. Danach rezitieren wir, machen Samu oder studieren vielleicht gemeinsam Sutren. Wir üben Augenblick für Augenblick in einem fast klösterlichen Rahmen shikantaza, mushotoku und hishiryo, als Besucher/Besucherin, Schüler/Schülerin, Lehrer/Lehrerin.

In der Praxis im Dojo sind wir aber nicht getrennt von dem, was außerhalb des Dojos passiert. Wir kommen beeinflusst vom Alltagsgeschehen ins Dojo und gehen beeinflusst vom Geist von Zazen zurück in den Alltag.

Jedoch haben viele Praktizierende Schwierigkeiten, den Zen-Geist oder die Zen-Praxis im Alltag fortzuführen, also das Gyoji zu beizubehalten.

Aus meiner Sicht beruht das darauf, dass wir zwischen der Praxis im Dojo und der Praxis im Alltag einen großen Unterschied machen.

Es ist mit Sicherheit schwierig, im Geflecht von sozialen Beziehungen und in einer Umwelt, die auf Unterschieden, Täuschungen und Profit beruht, die Zen-Praxis fortzuführen. Aber genau da ist unsere Praxis am nötigsten. Da, wo Leid entsteht, müssen wir die geeigneten Mittel finden, um dem Leiden entgegenzuwirken.

Mit der Energie unserer regelmäßigen Zazen-Praxis im Dojo können wir dies tun. Beides steht in wechselseitiger Abhängigkeit und kann nur zusammen zum Wohle aller Wesen dienen. Die Praxis darf nicht vom Ort und der Zeit abhängen. Wenn wir wirklich die reine Praxis bewahren, dann praktizieren wir unabhängig von Ort und Zeit. Alles sind Praxisfelder und alle Phänomene sind Pforten des Dharmas, die es zu durchdringen gilt, so wie es im dritten Bodhisattva-Gelübde zum Ausdruck kommt.

So wurde Buchenwald zum Ort unserer Praxis.

Bernie Glassman, der amerikanische Zen-Meister, begann mit der Praxis an Orten des Leidens wie Auschwitz-Birkenau oder auf der Straße. An diesen Orten ist Heilung nur möglich, wenn wir über alle Unterschiede hinausgehen, den anderen in uns selbst sehen und uns selbst in den anderen. An Orten des Leidens begeben wir uns in Situationen, die unser Vorstellungsvermögen übersteigen. Wir können nicht anders, als all unsere Vorstellungen und Ideen loszulassen, um völlig da zu sein. In dieser Erfahrung der Ungetrenntheit, jenseits von Kategorien, gibt es kein ich und keine anderen mehr.

Diese Erfahrung der Einheit, der Ungetrenntheit, beeinflusst unser Handeln in Worten, Taten und Gedanken.

Meister Deshimaru sagte in seinem Kommentar zum Shobogenzo Gyoji: „Die wahre Weisheit kann nicht in Kategorien eingeschlossen werden. (…) Der große Weise lebt auf der Straße, der kleine Weise zieht ins Gebirge.“

Auch Buddha Shakyamuni verließ seinen Palast. Er begegnete Alter, Krankheit und Tod, und das überstieg sein Vorstellungsvermögen. Er fasste den Entschluss, einen Weg zu finden, um das Leiden zu überwinden. Ohne den konkreten Kontakt mit der Welt des Leidens, hätte er sich nicht auf den Weg gemacht.


In unserer Praxis hier in Buchenwald verlassen wir zeitweise unsere Schutzräume, das Dojo, in das wir üblicherweise gehen, aber auch unsere Gewohnheiten und Muster in Gedanken, Worten und Taten. Aus unseren Schutzräumen werden Freiräume, die es uns ermöglichen, die Wirklichkeit anzuschauen, so wie sie ist, Augenblick für Augenblick. In Verbundenheit, in heilsamen Handlungen und in Frieden.

Buchenwald ist für vier Tage unser Dojo, der Ort der Praxis, an dem das Gyoji der Buddhas und Vorfahren fortgesetzt wird. Aber jeder Ort kann Ort der Praxis sein. Die ganze Welt kann unser Kloster sein.

Im vierten Bodhisattva-Gelübde heißt es: „Unbegrenzt ist der Buddha-Weg. Ich gelobe, ihn ganz zu verwirklichen.“

Der Buddha-Weg ist unbegrenzt in Zeit und Raum. Unsere Praxis ist unbegrenzt. Wir praktizieren im Ring des Weges durch und mit den Buddhas und Vorfahren. Und unsere Praxis in Buchenwald ist Teil der gegenwärtigen Praxis, die es zu bewahren gilt.

Ich danke allen, die an diesem Gyoji des Buchenwald Sesshin beteiligt sind, allen Teilnehmenden aus der Vergangenheit, der Gegenwart (euch hier) und der Zukunft, allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Gedenkstätte, allen Buddhas, Dharmavorfahren und Dharmavorfahrinnen, insbesondere:

  • Bernie Glassman Roshi, ohne den es diese Praxisform in Buchenwald nicht gäbe.

  • Zen-Meister Roland Yuno Rech, der sein Leben voll und ganz der Unterweisung und Praxis von Zazen widmet.

  • Zen-Meister Heinz-Jürgen Metzger, dessen Praxis aus meiner Sicht beides integriert, die Bewahrung der Tradition und das Entwickeln und Praktizieren neuer Formen, an denen er mich teilhaben und die er mich mitgestalten lässt.

  • Und last but not least der Buddha-Weg Sangha, die das Gyoji der Praxis gemeinsam mit mir verwirklicht.

Möge unsere Praxis hier in Buchenwald der Befreiung aller fühlenden Wesen, an allen Orten und zu allen Zeiten dienen.



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