Ursachen von Gewalt
Buddha lebte vor rund 2.500 Jahren auf dem indischen Subkontinent. Seit dieser Zeit hat sich seine Sicht der Wirklichkeit, das Dharma, in verschiedenen Regionen Asiens und - im letzten Jahrhundert - auch in Europa und den USA verbreitet. In den unterschiedlichen Verbreitungsgebieten wurden mehr oder minder stark Elemente der dort ursprünglich vorherrschenden Religionen, Philosophien und Kulturen integriert. ‚Den’ Buddhismus oder ‚die’ buddhistische Sicht gibt es dementsprechend nicht wirklich. Es gibt verschiedene Buddhismen, z.B. den vietnamesischen, den kambodschanischen, den tibetischen, den chinesischen, den koreanischen, den japanischen Buddhismus.
Gemeinsam ist den vielen Richtungen innerhalb des Buddhismus, dass sie sich auf grundlegende Aussagen Buddhas beziehen:
Aus der Sicht Buddhas gibt es nichts, was aus sich selbst heraus existiert. Wenn bestimmte Bedingungen gegeben sind, entsteht etwas, fallen die Bedingungen weg, die die Existenz ermöglichen, hört die Existenz auf. Buddha sprach vom ‚bedingten Entstehen’.
Buddha selbst hat 40 Jahre lang gelehrt. Das von ihm Gelehrte wurde über
Jahrhunderte hin mündlich weitergegeben. Erst spät wurde es niedergeschrieben.
Die Niederschrift umfasst Hunderte von Seiten. (Im Internet zu finden unter
www.palikanon.com.) Mir sind keine Textstellen
bekannt, in denen Buddha allgemein das Entstehen von Gewalt erläutert.
Es ist jedoch in der zwölfgliedrigen Kette des bedingten Entstehens festmachbar.
Es würde den Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Thema sprengen, die zwölf Glieder der Kette einzeln und in ihrer Verbindung untereinander zu besprechen. Daher hier nur der Hinweis auf die für das Thema wichtigen grundlegenden Mechanismen:
Wir Menschen sehen die Wirklichkeit nicht so, wie sie ist: Wir sind überzeugt, dass wir über ein ‚Ich’ verfügen, das zumindest von der Geburt bis zum Tod und getrennt von den anderen Menschen existiert (Manche Menschen glauben darüber hinaus an eine den Tod überdauernde Seele.), während in Wirklichkeit nichts eine dauerhafte, getrennte Substanz hat und aufgrund dessen alles mit allem untrennbar verbunden ist.
Aufgrund der falschen Sicht der Wirklichkeit (VERBLENDUNG) neigen die sich
als getrennt wahrnehmenden Ichs dazu, sich als angenehm empfundene Dinge anzueignen
(haben wollen: GIER) und als unangenehm empfundene Dinge zurückzuweisen
(nicht haben wollen: HASS). Die Absicht, sich Dinge anzueignen und andere Dinge
zurückzuweisen (und auch die Tatsache, mit Menschen zusammen zu sein, die
man mag, und von Menschen getrennt zu sein, die man nicht mag), kann zu personaler
Gewalt führen.
Um die Fortdauer dessen, was vom Ich als Vorteil für sich selbst angesehen
wird, und das Nicht-Eintreten dessen, was vom Ich als Nachteil für sich
selbst angesehen wird, zu gewährleisten, schafft das Ich – bzw. Gruppen
von Menschen mit übereinstimmenden Aneignungs- bzw. Ablehnungsmustern –
Strukturen, die dem eigenen Ziel nützlich sind. So kann man z.B. sagen,
dass große Teile der Medienindustrie der Fortdauer der Verblendung, dass
die Werbeindustrie der Fortdauer der Gier und dass der militärisch-industrielle
Komplex der Fortdauer des Hasses dient. Im Rahmen der in diesen Bereichen aufgebauten
Strukturen und Institutionen formt sich strukturelle Gewalt aus.
Die Existenz von Gewaltstrukturen begünstigt ihrerseits wiederum die (Weiter-)Entwicklung personaler Gewalt.
Die Überwindung von Gewalt
Typisiert man die verschiedenen Buddhismen, kann man - entsprechend den von ihnen vertretenen Idealen und Zielen - zwei Hauptströmungen unterscheiden, das Theravada und das Mahayana.
Die Überwindung von Gewalt aus der Sicht des Theravada
Die ideale Persönlichkeit im Theravada ist der Arhat. Er hat sich soweit aus der Welt zurückgezogen, dass er nicht mehr wiedergeboren wird. In ihm ist jeder Wunsch nach einem erneuten Werden erloschen. Er wird nicht mehr im Samsara wiedergeboren werden, sondern nach seinem Verlöschen das Nirvana erreichen. Im Khaggavisana-Sutra sagt der Buddha:
Abstehend von Gewalt bei allen Lebewesen,
Nicht eins von ihnen irgendwie verletzend,
Nicht Sohn sich wünschend, noch Gefährten,
Allein mag wandern man, dem Nashorn gleich.Dem, der sich zugesellt, Anhänglichkeit erwächst ihm.
Anhänglichkeit hat im Gefolg dies Leiden.
Anhänglichkeits-entstammtes Leiden sehend,
Allein mag wandern man, dem Nashorn gleich.Für Freunde und Vertraute Mitleid fühlend,
Sein Heil verliert man, wenn das Herz gefesselt.
Solch Fährnis in vertrautem Umgang sehend,
Allein mag wandern man, dem Nashorn gleich.
Wie breit gewachsener Bambus sich verwickelt,
So ist die Neigung auch zu Weib und Kind.
Wie Bambus-Sproß, der unverwickelt,
Allein mag wandern man, dem Nashorn gleich.
…
Wenn einen weisen Freund man findet,
Als Weg-Gefährten, edel lebend, kraftvoll,
Jedwede Widrigkeiten überwindend,
Mag wandern man mit ihm, beglückt und achtsam.
…
Wenn keinen weisen Freund man findet,
Als Weg-Gefährten, edel lebend, kraftvoll,
Gleich einem König, der besiegtes Land verläßt,
Allein mag wandern man, dem Nashorn gleich.
…
Ja wahrlich, preisen wollen wir das Glück der Freundschaft
Die besser oder gleich, solch Freunde soll man wählen.
Kann solche man nicht finden, tadelfrei dann lebend,
Allein mag wandern man, dem Nashorn gleich.
…
Der Blick gesenkt, sein Schritt schweift nicht umher,
Die Sinne sind gezügelt und der Geist bewacht,
Verschlossen allem Schlechten, ohne Fieberbrennen,
Allein mag wandern man, dem Nashorn gleich.
…
Die Abgeschiedenheit und Schauung nicht versäumend.
Beständig bei den Dingen treu der Lehre lebend,
Das Elend aller Daseinsformen klar begreifend,
Allein mag wandern man, dem Nashorn gleich.
…
Nach des Begehrens Ende unermüdlich strebend,
Mit wachem Geiste, wohl erfahren, achtsam,
Ein Lehr-Ergründer, der gesichert, strebsam,
Allein mag wandern man, dem Nashorn gleich.
…
(vollständiger Text: http://www.palikanon.com/khuddaka/sn/sn_i03_75.html )
Ein derart weit gehender Rückzug aus der Welt ist jedoch nur auf dem Weg des Mönchs (Bhikkhu) möglich. Als Laie ist man zu sehr mit der Welt verbunden, um alles Haben-Wollen und alles Nicht-Haben-Wollen abzulegen und die Verblendung völlig zu überwinden. Doch selbst Mönchen fällt es schwer, Streit und Zank hinter sich zu lassen. Im Upakkilesa Sutra heißt es:
1. So habe ich es gehört. Einmal hielt sich der Erhabene bei Kosambi in Ghositas Park auf.
2. Bei dieser Gelegenheit waren die Bhikkhus bei Kosambi in Streit und Zank verfallen und waren in Streitgespräche vertieft, bei denen sie sich gegenseitig mit Worten, die Dolchen glichen, verletzten.
3. Da ging ein bestimmter Bhikkhu zum Erhabenen, und nachdem er ihm gehuldigt hatte, stand er zur Seite und sagte: "Ehrwürdiger Herr, die Bhikkhus hier bei Kosambi sind in Streit und Zank verfallen und sind in Streitgespräche vertieft, bei denen sie sich gegenseitig mit Worten, die Dolchen gleichen, verletzen. Es wäre gut, ehrwürdiger Herr, wenn der Erhabene aus Mitgefühl zu jenen Bhikkhus gehen würde." Der Erhabene stimmte schweigend zu.
4. Dann ging der Erhabene zu jenen Bhikkhus und sagte zu ihnen: "Genug, ihr Bhikkhus, es soll keinen Streit, keinen Zank, keinen Zwist und keine Streitgespräche geben." Nach diesen Worten sagte ein bestimmter Bhikkhu zum Erhabenen: "Warte, ehrwürdiger Herr. Der Erhabene, der Herr des Dhamma lebe unbeschwert und widme sich dem angenehmen Verweilen hier und jetzt. Wir sind diejenigen, die für diesen Streit, diesen Zank, diesen Zwist und diese Streitgespräche verantwortlich sein werden."
Zum zweiten Mal sagte der Erhabene: "Genug, ihr Bhikkhus, es soll keinen Streit, keinen Zank, keinen Zwist und keine Streitgespräche geben." Zum zweiten Mal sagte jener Bhikkhu zum Erhabenen: "Warte, ehrwürdiger Herr. Der Erhabene, der Herr des Dhamma lebe unbeschwert und widme sich dem angenehmen Verweilen hier und jetzt. Wir sind diejenigen, die für diesen Streit, diesen Zank, diesen Zwist und diese Streitgespräche verantwortlich sein werden."
Zum dritten Mal sagte der Erhabene: "Genug, ihr Bhikkhus, es soll keinen Streit, keinen Zank, keinen Zwist und keine Streitgespräche geben." Zum dritten Mal sagte jener Bhikkhu zum Erhabenen: "Warte, ehrwürdiger Herr. Der Erhabene, der Herr des Dhamma lebe unbeschwert und widme sich dem angenehmen Verweilen hier und jetzt. Wir sind diejenigen, die für diesen Streit, diesen Zank, diesen Zwist und diese Streitgespräche verantwortlich sein werden."
5. Als es Morgen war, zog sich der Erhabene an, nahm seine Schale und äußere Robe und ging um Almosen nach Kosambi hinein. Nachdem er in Kosambi um Almosen umhergegangen war und nach seinem Mahl von seiner Almosenrunde zurückgekehrt war, brachte er seine Lagerstätte in Ordnung, nahm seine Schale und äußere Robe, und äußerte noch im Stehen diese Verse:
6. "Wenn viele durcheinander schrei'n,
So dünkt sich keiner selbst als Narr;
Obwohl die Sangha fällt entzwei,
Sieht keiner seinen Fehler ein.
Die weise Rede man vergaß,
Und wortbesessen sprechen sie.
Mit loser Zunge zanken sie;
Den Grund dafür weiß keiner mehr.
'Geschlagen hat er mich, beschimpft,
Hat mich besiegt, hat mich beraubt!'
Wer solchem Denken sich gibt hin,
In dem kommt nie der Haß zur Ruh'.
Durch Haß fürwahr kann nimmermehr
Zur Ruhe bringen man den Haß;
Durch Nicht-Haß kommt der Haß zur Ruh':
Das ist ein ewiges Gesetz.
Die Andern aber seh'n nicht ein,
Daß man sich hierin zügeln muß.
Doch, wer da rechte Einsicht hat,
In dem kommt aller Streit zur Ruh'.
Wer Knochen bricht und Leben nimmt,
Wer Reichtum, Vieh und Pferde stiehlt,
Wer brandschatzt gar das ganze Reich -
Der kommt mit seinesgleichen aus.
Warum gelingt euch jenes nicht?
…
(vollständiger Text: http://www.palikanon.com/majjhima/zumwinkel/m128z.html )
Hauptaufgabe der Laien ist es, die Mönche auf ihrem Weg zu unterstützen, und auf diese Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, in einem späteren Leben selbst einmal den Weg eines Mönchs einzuschlagen und auf diesem Weg dann das Ziel der Arhatschaft, das Verlassen des Samsara und den Eintritt ins Nirvana, zu erreichen.
Eine völlige Überwindung der Gewalt scheint mir aus Sicht des Theravada nur für den Arhat möglich. Das heißt aber nicht, dass nicht auch die Laien an der Überwindung der Gewalt arbeiten können und müssen: Die fünf Gebote, die für Laien gelten, fordern Enthaltsamkeit von körperlicher und sprachlicher Gewaltausübung.
Die Folgen, die es hat, wenn man Lebewesen tötet, werden von Buddha im Culakammavibhanga Sutra aufgezeigt:
1. So habe ich gehört. Einmal hielt sich der Erhabene bei Savatthi im Jeta Hain, dem Park des Anathapindika auf.
2. Da ging der brahmanische Student Subha, der Sohn von Todeyya, zum Erhabenen und tauschte Grußformeln mit ihm aus. Nach diesen höflichen und freundlichen Worten setzte er sich seitlich nieder und fragte den Erhabenen:
3. "Meister Gotama, was ist die Ursache und Bedingung dafür, daß man unter den menschlichen Wesen schlechtergestellte und bessergestellte sieht? Denn man sieht kurzlebige und langlebige Menschen, kränkliche und gesunde, häßliche und schöne, Menschen ohne Einfluß und einflußreiche, arme und reiche, von niedriger und hoher Geburt, dumme und weise. Was ist die Ursache und Bedingung dafür, Meister Gotama, daß man unter den menschlichen Wesen schlechtergestellte und bessergestellte sieht?"
4. "Student, die Wesen sind die Eigentümer ihrer Handlungen, Erben ihrer Handlungen; sie entspringen ihren Handlungen, sind an ihre Handlungen gebunden, haben in ihren Handlungen ihre Zuflucht. Es ist die Handlung, die die Wesen in schlechtergestellte und bessergestellte unterscheidet."
"Ich verstehe die Bedeutung der Äußerung von Meister Gotama nicht in allen Einzelheiten, da er sich kurz gefaßt hat, ohne die Bedeutung näher darzulegen. Es wäre gut, wenn Meister Gotama mich das Dhamma lehren würde, so daß ich die Bedeutung der Äußerung von Meister Gotama möglicherweise in allen Einzelheiten verstehe."
"Dann, Student, höre zu und verfolge aufmerksam, was ich sagen werde." - "Ja, Herr", erwiderte der brahmanische Student Subha. Der Erhabene sagte folgendes:5. "Student, da tötet irgendein Mann oder eine Frau lebende Wesen und ist mordlustig, mit Blut an den Händen, zum Kämpfen und zur Gewalt geneigt, gnadenlos gegenüber lebenden Wesen. Weil er solch eine Handlung begeht und auf sich nimmt, erscheint er bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode in Umständen, die von Entbehrungen geprägt sind, wieder, an einem unglücklichen Bestimmungsort, in Verderbnis, ja sogar in der Hölle. Wenn er aber bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode nicht in Umständen, die von Entbehrungen geprägt sind, wiedererscheint, an einem unglücklichen Bestimmungsort, in Verderbnis, in der Hölle, sondern stattdessen in das menschliche Dasein zurückkehrt, dann ist er kurzlebig, wo immer er auch wiedergeboren wird. Dies ist der Weg, Student, der zu einem kurzen Leben führt, nämlich wenn man lebende Wesen tötet und mordlustig ist, mit Blut an den Händen, zum Kämpfen und zur Gewalt geneigt, gnadenlos gegenüber lebenden Wesen."
6. "Aber, Student, da enthält sich irgendein Mann oder eine Frau davon, Lebewesen zu töten, indem er es aufgegeben hat, Lebewesen zu töten; Stock und Waffen beiseite gelegt, sanft und freundlich, lebt er voll Mitgefühl für alle Lebewesen. Weil er solch eine Handlung begeht und auf sich nimmt, erscheint er bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode an einem glücklichen Bestimmungsort wieder, ja sogar in der himmlischen Welt. Wenn er aber bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode nicht an einem glücklichen Bestimmungsort wiedererscheint, in der himmlischen Welt, sondern stattdessen in das menschliche Dasein zurückkehrt, dann ist er langlebig, wo immer er auch wiedergeboren wird. Dies ist der Weg, Student, der zu einem langen Leben führt, nämlich wenn man sich davon enthält, Lebewesen zu töten, indem man es aufgegeben hat, Lebewesen zu töten; Stock und Waffen beiseite gelegt, sanft und freundlich, lebt man voll Mitgefühl für alle Lebewesen."
…
(vollständiger Text: http://www.palikanon.com/majjhima/zumwinkel/m135z.html )
Gewaltverzicht – allen Lebewesen gegenüber, also sowohl Menschen
als auch Tieren! – nützt aus Sicht Buddhas also nicht nur denjenigen,
gegenüber denen man auf Gewalt verzichtet, sondern auch einem selbst.
Die Überwindung von Gewalt aus der Sicht des Mahayana
Im Laufe der Jahrhunderte nach Buddhas Tod entwickelte sich eine weitere buddhistische Strömung, das Mahayana. Sein Ideal ist der Bodhisattva. Dieser hat es sich nicht zum Ziel gesetzt, das Samsara möglichst schnell zu verlassen, um in ein definitives Nirvana einzugehen, sondern er bleibt im Kreislauf der Wiedergeburten, um die vier großen Gelübde zu verwirklichen, die er abgelegt hat.
Das Mahayana hebt hervor, dass die Wirklichkeit unbeständig ist und es
nichts gibt, das eine dauerhaft von allem anderen getrennt existierende Substanz
hat. Für diesen Sachverhalt hat das Mahayana den Begriff ‚Leerheit’
geprägt: Alles ist leer von eigener Substanz und in stetigem Wandel begriffen.
Nichts ist wirklich fassbar. – Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen:
Ein Blatt Papier besteht aus lauter Bestandteilen, die kein Papier sind: Sonne,
Regen und Erde haben einen Baum wachsen lassen, dieser ist von Menschen gefällt
und in eine Fabrik gebracht worden, in einem Verarbeitungsprozess aus vielen
Einzelschritten ist mit Hilfe von Menschen und Maschinen und unter Zusatz von
anderen Materialien Papier hergestellt worden.
Positiv formuliert bedeutet das, dass alles mit allem verbunden ist: Der blaue Planet, die Erde, ist ein Körper. Wir Menschen sind Teil dieses einen Körpers, ebenso wie Tiere, Pflanzen, Berge und Täler, Flüsse, Seen und Wüsten. Sieht man die Wirklichkeit, sieht man die Verbundenheit, sind Mitgefühl, Solidarität und ökologisch verantwortliches Verhalten die Konsequenz. Diese Konsequenz zeigt sich in dem Bemühen der Bodhisattvas, ihre großen Gelübde zu verwirklichen. Sie sehen, dass die Aufgabe eigentlich nicht leistbar ist (‚unzählig’, ‚unerschöpflich’, ‚unermesslich’, ‚unbegrenzt’), aber sie lassen sich davon nicht entmutigen, sondern arbeiten weiter daran, dass aus dem, was sie gelobt haben, Wirklichkeit wird.
Dass alles mit allem verbunden ist, hat aber noch eine zweite Konsequenz: Alles, was existiert, ist aufeinander bezogen: Es gibt kein groß ohne klein, kein gut ohne schlecht, kein richtig ohne falsch, kein Leben ohne Tod, usw. alles, was uns als Gegensatz erscheint, ist in Wirklichkeit miteinander verbunden. Gegensätze und Dualismen existieren in unseren Vorstellungen, aber nicht in der Wirklichkeit. Denkt man das weiter, gibt es kein ‚Ich’, das ‚alle lebenden Wesen’ befreien kann, gibt es keine ‚leidschaffenden Täuschungen’ die durch eine richtige Sicht der Wirklichkeit ‚überwunden’ werden können.
In unserem Erleben gibt es Subjekt und Objekt, gibt es ‚ich’ und ‚andere Lebwesen’. In der Wirklichkeit selbst gibt es weder Subjekt noch Objekt, weder ich noch andere Lebewesen.
In unserem Denken empfinden wir das als Widerspruch. Deshalb prägte das Mahayana im Laufe der Zeit den Gedanken der zwei Wahrheiten: Die relative Wahrheit ist, dass es Gegensätze und Dualismen gibt. Die absolute Wahrheit ist, dass es keine Gegensätze und Dualismen gibt. (Auch relative und absolute Wahrheit sind aufeinander bezogen, sind keine Gegensätze.)
Die Annahme zweier Wahrheiten hat japanischen Zen-Meistern dazu gedient, kriegerische Handlungen der japanischen Regierung im zweiten Weltkrieg nicht nur zu rechtfertigen, sondern auch zu fördern und zu unterstützen. Die Argumentation lautete: Auf absoluter Ebene gibt es weder Geburt noch Tod. Die Vorstellung, dass man jemanden töten kann, entspricht nicht der Wirklichkeit. Selbst wenn Waffen eingesetzt werden, um jemanden zu töten, handelt es sich in Wirklichkeit nicht um Töten.
Die Wirklichkeit umfasst jedoch beide Wahrheiten, relative und absolute. Die einseitige Betonung eines Aspekts, sei es des relativen oder des absoluten, wird der Wirklichkeit nicht gerecht.
Gewalt und Gewaltlosigkeit existieren sowohl als Gegensatz, als auch aufeinander
bezogen, untrennbar vereint.
In Anlehnung an die vier großen Gelübde der Bodhisattvas könnte man vielleicht formulieren:
Endlos ist der Weg der Gewaltlosigkeit.
Ich gelobe, ihn ganz zu gehen.
Die Arbeit der Peacemaker Gemeinschaft
Die Peacemaker Gemeinschaft wurde 1994 von dem amerikanischen Zen-Meister Bernie Glassman und seiner Frau, der Zen-Meisterin Sandra Jishu Holmes gegründet.
Bernie Glassman ist einer der führenden Vertreter des engagierten Buddhismus im Westen. Über seine Arbeit sagt er:
Für mich bedeutet soziales Engagement, mit allen Aspekten von einem selbst und der Gesellschaft zu arbeiten, die unterversorgt sind (das ist meine Definition von sozialem Engagement). Der buddhistisch Teil davon ist (für mich), dass ich diese Arbeit ausgehend von einem Standpunkt der Nicht-Dualität mache und dass ich mich in dieser Arbeit bemühe, die Menschen die Verbundenheit und Einheit des Lebens erfahren zu lassen. Das ist die Grundlage, von der aus ich arbeite.
In all meiner Arbeit versuche ich Wege zu schaffen, die den Menschen, denen ich diene, helfen, die Verbundenheit des Lebens, die Einheit des Lebens zu realisieren und zu verwirklichen. Das sehe ich als meine Aufgabe als Zen-Lehrer an. Dies sind einige der Gelübde, die ich vor mir und auch öffentlich abgelegt habe, dass ich der ganzen Gesellschaft dienen werde und nicht nur denen, die in den Meditationsraum kommen. Ich habe den Zielpunkt geändert. Er ist die Gesellschaft und der hauptsächliche Dienst ist die Verbundenheit des Lebens zu realisieren und zu verwirklichen. Der zweite Dienst besteht darin, mit den Aspekten der Gesellschaft und von sich selbst zu arbeiten, die unterversorgt sind.
Grundlage der Arbeit der Peacemaker Gemeinschaft sind die vier Verpflichtungen,
wie sie von Hans Küng im ‚'Projekt Weltethos’ formuliert wurden,
und die drei Grundsätze.
- Nicht wissen
Jeder Augenblick ist eine Schatzkiste, die nie zuvor geöffnet worden ist. Suzuki Roshi sagte einmal: „Weisheit ist ein Geist, der bereit ist.“ Dieser Geist der Bereitschaft ist ein Geist, der frei von Konzepten ist. Er ist der „Anfänger-Geist“, in dem alles geschehen kann. In der Anfangsphase eines Übergangs, in der Zeit der Trennung, wird der Geist des Nicht-Wissens geöffnet. Hier kann Vertrauen aufsteigen, aus dem Annehmen dessen heraus, was ist, ohne zu versuchen, zu kontrollieren, zu manipulieren oder zu beurteilen.
Joan Halifax RoshiDie Seligkeit tat ihren Mund der Weisheit auf und sprach: "Selig sind die Armen im Geiste, das Himmelreich ist ihrer."
Bergpredigt (Matth. 5,3)Bischof Albrecht sagt, das sei ein armer Mensch, der an allen Dingen, die Gott je erschuf, kein Genügen habe, - und das ist gut gesagt. Wir aber sagen es noch besser und nehmen Armut in einem (noch) höheren Verstande: das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts weiß und nichts hat.
Meister Eckehart
- Teil sein
Die Meister sagen, Erkenntnis hänge an Gleichheit. Etliche Meister sagen, die Seele sei aus allen Dingen gemacht, weil sie das Vermögen hat, alle Dinge zu erkennen. Es klingt töricht und ist doch wahr. Die Meister sagen: Was ich erkennen soll, das muß mir völlig gegenwärtig sein und meiner Erkenntnis gleichen.
Meister EckehartViele Friedensstifter haben sehr viel Erfahrung im Bereich sozialer Arbeit. Aber das bedeutet nicht, dass sie Anteil gehabt haben. Sie haben oft keine Vorstellung davon, wie es ist, wenn auf physische Bedürfnisse nicht hinreichend Rücksicht genommen wird oder diese sogar gänzlich ignoriert werden oder wenn man als Patient nicht wie ein Mensch behandelt wird. Viele von ihnen haben zwar schon Essen an Hungernde verteilt, aber sie wissen oft nicht, was ein Mensch empfindet, wenn er auf der Straße von jemand anderem Essen bekommt. Und diejenigen, die in Gefängnissen gearbeitet oder Rehabilitationsheime aufgebaut haben, haben dies in den meisten Fällen nicht als Insasse und Leidtragender eines solchen Systems getan.
Wir üben uns in der Erweiterung unserer Perspektive, nicht darin zu lehren, sondern darin zuzuhören. Da diese Übung immer tiefere Dimensionen erreicht, kommt sie nie zum Abschluss. Und alles beginnt und endet mit Nichtwissen. Unser Teilhaben zielt nicht darauf, andere Menschen darüber zu belehren, wie sie sich in ihrem Leben verhalten sollen. Nach langen Jahren des Studiums, des Lehrens und der Arbeit für den Frieden ist mir klar geworden, dass ich verblendet war, dass ich immer verblendet sein werde und dass ich nie einen Ort endgültigen Wissens erreichen, werde. Mir ist heute klar, dass das Bemühen, das Unbekannte zu durchdringen und teilzuhaben, für mich nie ein Ende finden wird. Immer wieder muss ich teilhaben, loslassen, teilhaben, loslassen, teilhaben und loslassen.
Bernie Glassman Roshi
- Handeln in Einheit
Lass uns geloben,
Teilzuhaben
an der Ganzheit des Lebens,
Und zu verstehen,
Dass alles vollständig ist.
Indem ich über unsere Unterschiede hinausgehe,
Werde ich mich als Dich
Und Dich als mich erkennen.
Mögen wir einander dienen,
All unsere Tage,
Hier, dort, überall.
Wendy Egyoku Nakao RoshiWenn wir Teilhaben, wenn wir mit einer Situation – Obdachlosigkeit, Armut, Krankheit, Gewalt oder Tod – eins werden, offenbart sich rechtes Handeln von selbst. Sorgen darüber, was wir am besten tun sollten, sind überflüssig. Wir brauchen nicht vorbeugend nach Lösungen zu suchen. Aus unserem Teilhaben ergibt sich, wie wir für den Frieden arbeiten können.
Es ist ganz einfach: Wir reichen jemandem, der gestolpert ist, die Hand, und wenn ein Kind hingefallen ist, heben wir es vom Boden auf. Wir tun täglich solche Dinge, ohne sie als etwas Besonderes anzusehen. Und sie sind auch nichts Besonderes, sondern einfach die bestmögliche Art, in einem bestimmten Augenblick auf die aktuelle Situation zu reagieren.
Wir arbeiten für die Heilung anderer, und indem wir dies tun, heilen wir auch uns selbst. Wir warten nicht, bis wir Frieden gefunden haben, um erst dann mit unserer Arbeit für den Frieden zu beginnen. Wenn wir die Welt als Einheit sehen, können wir uns nur heilen, indem wir auch alle anderen heilen, denn es gibt im Grunde keine ”anderen”.
Bernie Glassman RoshiHast du dich selbst lieb, so hast du alle Menschen lieb wie dich selbst. Solange du einen einzigen Menschen weniger lieb hast als dich selbst, so hast du dich selbst nie wahrhaft lieb gewonnen, - wenn du nicht alle Menschen so lieb hast wie dich selbst, in einem Menschen alle Menschen: und dieser Mensch ist Gott und Mensch.
Meister Eckehart
Auf dieser Grundlage führt die Peacemaker Gemeinschaft Retreats an Orten des Leidens, z.B. in ehemaligen Konzentrationslagern und auf den Straßen westlicher Großstädte durch.
Meine Arbeit als Zen-Mönch
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die ersten Deutschen im heutigen Sri Lanka als Theravada-Mönche ordiniert. Der wohl bedeutendste unter ihnen war Nyanaponika Mahathera. Er schrieb:
Wenn wir die tatsächlichen oder möglichen Quellen sozialer Mißstände in uns selbst unangetastet lassen, wird jede äußere soziale Tätigkeit, die wir aufnehmen, entweder wirkungslos oder offenkundig unvollkommen sein. Deshalb dürfen wir uns, wenn wir von sozialem Verantwortungsgefühl erfüllt sind, der schweren Aufgabe des Selbstschutzes, nämlich der sittlichen und geistigen Selbstläuterung, nicht entziehen.
Nyanaponika Mahathera (1901-1994)
Das, was Nyanaponika Mahathera hier als ‚sittliche und geistige Selbstläuterung’ bezeichnet, geschieht in der Praxis von Zazen: Im Sitzen in Stille nehmen wir die Gedanken wahr, die auftauchen, folgen ihnen aber nicht, sondern kehren zur Konzentration auf die Körperhaltung und die Wahrnehmung der Atmung zurück. Weil wir mit dem Sitzen kein Ziel verfolgen, können wir ruhig und friedlich im gegenwärtigen Augenblick verweilen. Im Dojo, dem Meditationsraum, sitzen wir gemeinsam mit anderen. Ihre Konzentration beeinflusst uns, und unsere Konzentration beeinflusst sie. Die Ungetrenntheit, Verbundenheit und Einheit des Lebens wird erfahrbar.
Die Erfahrung, die wir im Meditationsraum machen, bleibt nicht auf ihn beschränkt: Sie verändert unser Denken, Sprechen und Handeln im Alltag. Wir bemühen uns, die Verbundenheit, die Nicht-Dualität auch im Alltag zu aktualisieren. Der Theravada - und der Mahayana-Aspekt buddhistischer Friedensarbeit gehören untrennbar zusammen.
Diese Untrennbarkeit spiegelt sich in der Anlage der von mir durchgeführten Veranstaltungen: Aus der Stille von Zazen gehen wir in das Handeln oder in das Gespräch und von dort wieder in die Stille von Zazen.
Ein Tag während des Sesshins im ehemaligen KZ Weimar-Buchenwald beginnt z.B. morgens mit einem gemeinsamen Zazen im ehemaligen Steinbruch, in dem viele Gefangene durch Arbeit ermordet wurden. Nach dem Frühstück arbeiten wir bis nachmittags auf dem Lagergelände (z.B. indem wir Wege säubern), unterbrochen von einem Mittagessen. Anschließend kehren wir in Zazen zur Stille zurück. An das Abendessen schließt sich ein Gespräch an, in dem die Möglichkeit besteht, das zu thematisieren, was einem wichtig ist. Der Tag endet mit einem gemeinsamen Zazen.
Im Sprechen und Handeln wird eher die Vielfalt unserer Auffassungen und Fähigkeiten deutlich, in Zazen nehmen wir eher unsere Einheit wahr.
Einer der frühesten Texte des Zen wurde im 8. Jahrhundert von dem chinesischen Meister Shih-t'ou Hsi-ch'ien (jap.: Sekito Kisen) verfasst. Es trägt den Titel Sandokai. Eine der Übersetzungen dieses Titels lautet: Die Harmonie von Vielfalt und Einheit.
Daran zu arbeiten, Vielfalt und Einheit immer wieder in Einklang zu bringen ist aus meiner Sicht ein wichtiger, vielleicht der wichtigste Aspekt von Friedensarbeit aus buddhistischer Sicht.
Endlos ist der Weg der Gewaltlosigkeit.
Ich gelobe, ihn ganz zu gehen.
© Heinz-Jürgen Metzger