BuddhaWeg-Sangha

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Den Schutzraum verlassen

 

Kaiser Wu aus Liang fragte den großen Meister Bodhidharma:
« Was ist der wesentliche Punkt der Heiligen Wahrheit? »
Bodhidharma antwortete: « Offene Weite! Nichts Heiliges! »

Bodhidharma soll zu Beginn des 6. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung den Buddhismus von Indien nach China gebracht haben. Dass er tatsächlich gelebt hat, ist nicht sicher, aber auch nicht wichtig: Die Tatsache, dass diese Geschichte der Begegnung zwischen Bodhidharma und Kaiser Wu über Jahrhunderte hinweg erzählt wurde und noch erzählt wird, zeigt die Bedeutung der in ihr ausgedrückten Auffassungen. Über die Jahrhunderte hinweg ist Bodhidharma zum Gründungsvater des Zen-Buddhismus in China – und damit auch des Zen-Buddhismus in Japan und Europa – geworden. Ob es ihn tatsächlich gegeben hat, ob die Begegnung zwischen ihm und Kaiser Wu tatsächlich stattgefunden hat und ob sie sich so abgespielt hat, wie eben geschildert, ist demgegenüber sekundär.

Oft gewinnen mythische Erzählungen Oberhand über historische Fakten, das ist nicht nur im Zen-Buddhismus so, sondern kann auch im Buddhismus allgemein festgestellt werden.

„Was ist der wesentliche Punkt der Heiligen Wahrheit?“ – „Offene Weite! Nichts Heiliges!“

Wir Menschen neigen dazu, nach etwas Dauerhaftem, etwas Heiligem zu suchen, nach etwas, an das wir uns halten können, nach einem Gott, einer heiligen Wahrheit, einer heiligen Schrift.

Theorien, Glaubenssysteme und Dogmen können zu Gedankengebäuden werden, in die wir uns flüchten, um vor den Unsicherheiten geschützt zu sein, die sich aus der ständigen Veränderung ergeben, in die wir hineingeboren werden.

Genau dagegen wendet sich Bodhidharma: „Offene Weite! Nichts Heiliges!“

Es heißt, dass Kaiser Wu Bodhidharma nicht verstanden hat und dass sich dieser daraufhin in eine Höhle zurückgezogen hat, in der er neun Jahre lang vor einer Wand saß.

Dieses Sitzen vor der Wand ist das, was wir auch heute noch im Zen-Buddhismus praktizieren. In dieser sitzenden Haltung machen wir nichts. Wir zählen nicht die Atemzüge, wir scannen nicht unseren Körper, wir wiederholen kein Mantra. Wenn Gedanken, Empfindungen, Erinnerungen auftauchen – und sie tauchen auf – lassen wir sie vorüberziehen. Der Geist bleibt aufnahmefähig und offen, weil er sich nicht von Gedanken – auch keinen buddhistischen – fesseln lässt. Dies ist die ‚offene Weite’, von der Bodhidharma spricht.

In dieser Haltung der offenen Weite nehmen wir wahr, dass wir von nichts getrennt sind: Das Kind, das nach seiner Mutter ruft, und wir im Meditationsraum, die wir seine Rufe hören, sind unterschieden, aber nicht getrennt: Der Ruf, sein Ausstoßen und seine Wahrnehmung, verbindet uns.

In manchen buddhistischen Texten wird von dem ‚einen Körper’ gesprochen. Wie es in unserem Körper viele unterschiedliche Zellen und Organe gibt, die sich unterscheiden und unterschiedliche Funktionen erfüllen, so sind auch wir unterschiedliche Zellen und Organe eines größeren Körpers. Das Kind, das vor dem Fenster des Meditationsraums spielt, und wir, die wir im Meditationsraum sitzen – und uns vielleicht von dem Spiel des Kindes gestört fühlen – sind ein Körper.

Diese Sichtweise ist vielleicht ungewohnt, aber sie ist uns nicht völlig fremd: Ein Orchester wird auch als ‚Klangkörper’ bezeichnet. Es umfasst 60 oder 80 Musiker, die viele verschiedene Instrumente mit sehr unterschiedlichen Klängen spielen. Aber in ihrem Zusammenspiel sind sie ein Körper.

Dieser eine Körper hebt nicht die Unterschiede der Instrumente auf: Die Geige bleibt eine Geige, die Oboe eine Oboe, das Triangel ein Triangel. Aber sie erklingen gemeinsam. Sie sind unterschieden, aber nicht getrennt.

Offene Weite und Ungetrenntheit gehören zusammen: Wo immer wir eine Trennungslinie sehen oder ziehen, setzen wir der Weite eine Grenze.

Die Wahrnehmung der Ungetrenntheit bei gleichzeitiger Anerkennung der Unterschiedlichkeit hat gravierende Folgen für unser Handeln: Wenn wir tief verstehen, dass wir mit allem verbunden sind, was existiert, können wir nicht mehr egoistisch handeln, wir beziehen die anderen Teile unseres großen Körpers in unser Handeln mit ein.

Im Buddhismus wird häufig von ‚Mitgefühl’ gesprochen. Grundlage des Mitgefühls ist die Wahrnehmung der Ungetrenntheit: Der oder die andere ist nicht von mir getrennt. Wie könnte ich dann nicht mit ihm oder ihr fühlen?

Mir ist jedoch der Begriff ‚Mitgefühl’ zu eng. Ich verwende lieber den Begriff ‚Anteilnahme’: Es geht nicht nur um Gefühle, sondern darum, teil zu nehmen – und teil zu haben – an allem Leben, das uns umgibt. Wir haben nicht nur Anteil am Leben unserer Mitmenschen, sondern auch am Leben der Pflanzen und Tiere, der Bäche und Flüsse, der Erde und der Luft. Und sie haben ihrerseits Anteil an unserem Leben.

Das sind für mich keine theoretischen Feststellungen, sondern Formulierungen, die unsere konkrete Wirklichkeit spiegeln. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Verbrennungsmotoren der Autos, die wir benutzen, um uns fortzubewegen, stoßen Partikel aus, die nicht nur wir und andere Lebewesen einatmen, sondern sie schlagen sich auch auf dem Gras nieder, das von den Kühen gefressen wird, deren Milch wir trinken und deren Fleisch wir essen. Die über die Nahrungskette von uns aufgenommenen Schadstoffe schädigen unsere Gesundheit, sodass wir gezwungen sind, Medikamente zu uns zu nehmen, bei deren Herstellung neue Schadstoffe entstehen, usw., usw., usw..

Aus der Wahrnehmung der Ungetrenntheit, zu der uns die Praxis von Zazen führt, folgt ganz direkt ein solidarisches und ökologisches Handeln. Solidarisch, weil wir nicht getrennt sind von den Menschen, mit denen wir zusammen diese Erde bewohnen, ökologisch, weil wir auch von allen anderen Faktoren des Lebens nicht getrennt sind.

Nur wenn wir tatsächlich aus der Ungetrenntheit heraus handeln, haben wir sie wirklich verstanden.

Diese Sichtweise ist nicht wirklich neu: Kobo Daishi, der von 774 bis 835 lebte und den japanischen Shingon-Buddhismus gründete, sagte: „Du kannst die Tiefe der Erleuchtung eines Menschen daran erkennen, wie er anderen Menschen dient.“


Wenn es in der Praxis von Zazen darum geht, ‚offene Weite’ zu verwirklichen, so wirft dies zwei Fragen auf:

1.) Brauchen wir einen besonderen Raum für die Meditation, ein Dojo, einen Ort an dem der Weg praktiziert wird?
2.) Begrenzen wir nicht unsere Praxis, wenn wir sie nur im Meditationsraum, nur im Dojo durchführen?

Ich glaube, dass Meditationsräume notwendig sind: Wir leben in einer Welt, in der wir von Reizen überflutet werden. Viele dieser Reize werden ganz bewusst eingesetzt, um unsere Aufmerksamkeit zu wecken und um unseren Geist zu fesseln. Da ist es hilfreich und notwendig, einen Rückzugsort zu haben, an dem man sich der Flut von Reizen entziehen kann. Das ist der Grund, weshalb Zen-Dojos sehr schlicht gestaltet sind und wir während der Meditation einheitlich schlichte dunkle Kleidung tragen. Wir sind bemüht, eine Atmosphäre zu schaffen, in der nichts unsere Aufmerksamkeit an sich bindet.

Dies ist besonders wichtig für Anfängerinnen und Anfänger, die noch nicht sehr darin geübt sind, die offene Aufmerksamkeit auch unter ungünstigen Bedingungen aufrecht zu erhalten. Meditation bedarf eines Schutzraums.

Aber wenn wir nur im Meditationsraum praktizieren, besteht die Gefahr, das unsere Praxis begrenzt und eng wird. Es scheint mir sinnvoll und notwendig, den Schutzraum zu verlassen, hinaus zu gehen an öffentliche Orte und dort die gleiche Geisteshaltung zu entwickeln, die wir in der geschützten Atmosphäre eines Meditationsraumes entwickeln.

Wir sollten lernen, auch an einem öffentlichen Ort einfach nur zu sitzen und zu sehen wie Gedanken, Meinungen, Ängste, Empfindungen, Erinnerungen auftauchen und sie vorüberziehen lassen. Ich halte es für hilfreich, auch an diesen Orten mit einem Geist verweilen zu können, der aufnahmefähig und offen bleibt, der sich nicht von Gedanken fesseln lässt.

Ich habe bisher immer von Nicht-Getrenntheit gesprochen. Ein anderer Begriff für Nicht-Getrenntheit ist ‚Verbundenheit’. Auch an einem öffentlichen Ort können wir unsere Verbundenheit mit allem, was ist, wahrnehmen. Wir sind verbunden mit der Angestellten, die vor der Bürotür steht und raucht. Wir sind verbunden mit dem Mann, der in dem Papierkorb wühlt. Wir sind verbunden mit der Punkerin, die ihren Hund Gassi führt. Wir sind verbunden mit dem Jugendlichen, der auf seinem Skateboard beinahe einen Unfall verursacht. Wir sind verbunden mit den Tauben, die die Reste eines Brötchens aufpicken. Und, und, und.

Wir nehmen unsere Verbundenheit wahr, wir nehmen wahr, wie wir Urteile über die Menschen fällen, die wir sehen – und wir lassen all das vorüberziehen. Wir halten einfach unseren Geist offen. Offene Weite inmitten des Getümmels einer Großstadt.


Drei Praxisformen führen mich schon seit vielen Jahren aus dem Schutz des Meditationsraum heraus: Im Straßen-Retreat werden die Straßen einer Großstadt zum Dojo, den Orten des Weges, im Bearing-Witness-Retreat in Auschwitz-Birkenau und im Sesshin in Weimar-Buchenwald werden ehemalige Konzentrationslager zu Orten des Weges. Auf diese drei Praxisformen möchte ich etwas genauer eingehen.

1.) Straßen-Retreats

Nachdem ich diese Praxisform Ende der 90er Jahre in New York kennen gelernt hatte, wo der Zen-Meister Bernie Glassman zusammen mit einer Gruppe von 12 oder 14 Personen – eine davon war ich – mehrere Tage auf der Straße verbrachte, lud ich Bernie zu einem ersten Straßen-Retreat nach Deutschland ein. Wir verbrachten in einer etwa gleich großen Gruppe fünf Tage in Köln und Düsseldorf. Wir bettelten, um Geld für einen Kaffee oder für etwas zu Essen zu bekommen, wir aßen in Suppenküchen, wir unterhielten uns mit armen und obdachlosen Menschen, wir meditierten und besuchten Andachten und Gottesdienste verschiedener Religions-gemeinschaften. Seither habe ich fast jährlich ein Straßen-Retreat in einer deutschen Großstadt geleitet, allerdings mit deutlich weniger Teilnehmern und Teilnehmerinnen: Wir waren nie mehr als acht, ab und zu waren wir nur zu zweit.

Ein Straßen-Retreat beginnt bereits Wochen vor seinem eigentlichen Beginn: Alle an dem Straßen-Retreat Teilnehmenden müssen bereits zuvor mit dem Betteln beginnen, indem sie eine Mala sammeln.

Eine Mala ist eine Art Perlenkette, die aus achtzehn kleinen und einer großen Holzperle besteht. Jede Perle steht für eine Person, die den Teilnehmer oder die Teilnehmerin unterstützt. Die kleinen Perlen repräsentieren eine Person, von der 18 Euro, die große eine Person, von der 108 Euro erbettelt wurden. Die Teilnehmenden müssen also 19 Menschen – Mitglieder ihrer Familie, Freundinnen, Freunde oder GeschäftspartnerInnen – dazu bewegen, ihre Teilnahme an dem Retreat finanziell zu unterstützen.

Über die Verwendung der so erbettelten mehr als 400 € pro Person entscheiden die Teilnehmenden gemeinsam am letzten der Retreat-Tage. Es wird Projekten zur Verfügung gestellt, die sich an Obdachlose wenden und die wir selbst als hilfreich erlebt haben. – Wir sind also nicht nur Empfangende, sondern auch Gebende.
Zu einem Straßen-Retreat kommen wir mit leeren Händen und gehen wieder mit leeren Händen. Wir haben nur das dabei, was wir am Körper tragen.

Die Bettelpraxis, die zuhause bei Bekannten begonnen hat, setzt sich auf der Straße bei Fremden fort: Wir bitten um etwas zu trinken und etwas zu essen, oder wir bitten um Geld, um uns etwas kaufen zu können. – Vielen fällt es sehr viel leichter, etwas zu geben, als selbst um etwas zu bitten.

Wir lernen die Einrichtungen kennen, die sich um Arme und Obdachlose kümmern, seien es Wärmestuben, Suppenküchen, Tafeln, Beratungsstellen, die Bahnhofsmission, Gemeindezentren oder anderes. Wir sprechen mit den Menschen, die diese Einrichtungen aufsuchen, aber auch mit den Menschen, die dort arbeiten.

Viele Zeit verbringen wir damit, auf der Straße unterwegs zu sein. Die Nacht verbringen wir irgendwo draußen: Wir schlafen in einem Park, unter einer Brücke oder an einem anderen Platz, der uns etwas Schutz bietet. Schutz vor Wind und Regen, aber auch vor unwillkommenen Besuchern oder der Polizei. – Auch hier suche wir einen Schutzraum auf.

Nach Möglichkeit praktizieren wir dreimal am Tag Zazen, morgens nach dem Aufstehen, mittags und abends, bevor wir schlafen gehen. – Möglich ist es aber nicht immer: War die Nacht kalt, müssen wir erst einen Ort suchen, wo wir uns aufwärmen können. Ist die Suppenküche, in der wir ein Mittagessen zu bekommen hoffen, weit entfernt, müssen wir sehen, dass wir rechtzeitig dort sind – und die Meditation fällt aus.

Am Abend sitzen wir zusammen und tauschen uns in einem Gesprächskreis über die Erfahrungen aus, die wir gemacht haben.

Bernie Glassman schreibt über diese Praxis:

"Wenn wir uns von unseren gewohnten Denkmustern lösen können, finden wir auf der Straße alles, was wir brauchen. Falls wir einen Schlafplatz suchen und dabei nur an ein warmes, gemütliches Bett denken, finden wir natürlich keinen. Aber wenn wir Ausschau halten nach Dingen, mit deren Hilfe wir uns einen einigermaßen bequemen Schlafplatz bereiten können, entdecken wir Kartons, Plastikmaterial, achtlos weggeworfene Decken und Mäntel und manchmal sogar eine alte Pelzjacke. Oder wir finden heraus, dass das Ausstopfen der Schuhe mit Zeitungen ein guter Schutz gegen die Kälte ist. Wenn wir auf der Straße sind, wird uns sehr bald klar, wie schnell und umfassend wir uns von unseren Vorstellungen, unserem Wissen zu lösen vermögen."

Diese Ablösung von unserem Wissen stellt die offene Weite her, die es uns ermöglicht, uns und andere neu zu sehen. Und sie ermöglicht uns, uns in dem anderen und den anderen in uns zu sehen. – Wir sind unterschieden, aber nicht getrennt. – Aus dieser veränderten Sichtweise kann ein verändertes Handeln entstehen.

2.) Bearing-Witness-Retreat im ehemaligen KZ Auschwitz-Birkenau

1996 fand das erste Bearing-Witness-Retreat im ehemaligen KZ Auschwitz-Birkenau statt. Bernie Glassman hatte dazu eingeladen. Mehr als 100 Menschen sehr unterschiedlichen Hintergrunds folgten dieser Einladung: Kinder von Opfern und Tätern; Juden, Christen, Buddhisten; Amerikaner, Deutsche, Polen, Franzosen, Italiener; Männer und Frauen; Alte und Junge.

Gemeinsam war ihnen der Wunsch, sich für das Leid zu öffnen, das in Auschwitz manifest wird. Vor allem für das Leid der Ermordeten und das Leid ihrer überlebenden Angehörigen, aber auch für das Leid der Mörder und ihrer Angehörigen.

Jeden Morgen gingen die Teilnehmenden von Auschwitz 1 aus zu Fuß drei Kilometer nach Birkenau. Aus der Selektionsrampe, auf der früher entschieden wurde, wer sofort in den Gaskammern ermordet und wer durch Arbeit ermordet werden sollte, wurde ein Dojo. In ihm fanden bei Temperaturen unter 0 Grad und teilweise leichtem Schneefall täglich drei Meditationen statt. Es war jedoch nicht immer ein stilles Zazen: Während des Sitzens verlasen die Teilnehmenden abwechselnd die Namen von insgesamt mehreren tausend Ermordeten. Namen von Menschen, deren Name vielleicht zum letzten Mal bei der Selektion oder beim Appell aufgerufen worden war.

Zwischen den einzelnen Meditationen wurde gemeinsam das Kaddisch, das jüdische Totengedenken, gebetet. Darüber hinaus hielten die Mitglieder der verschiedenen religiösen Traditionen eigene und gemeinsame Zeremonien ab.

In sehr gemischt zusammengesetzten Gruppen tauschten wir uns über unsere Gefühle und Gedanken an diesem Ort aus.

Seit 1996 findet dieses Retreat alljährlich statt und wird nach wie vor von einer großen Zahl von Teilnehmerinnen und Teilnehmern besucht.



3.) Sesshin in Weimar-Buchenwald

Nachdem ich seit 1996 kontinuierlich in der organisatorischen und spirituellen Leitung des Auschwitz-Retreats mitgearbeitet hatte, organisierte und leitete ich 2001 das 1. Retreat im ehemaligen KZ Weimar-Buchenwald.

Mit dem Bau des KZ Buchenwald wurde 1937 begonnen. Zunächst war es für politische Gegner des Naziregimes, für vorbestrafte Kriminelle, für so genannte Asoziale, für Juden, für Zeugen Jehovas und für Homosexuelle bestimmt. Mit Beginn des 2. Weltkrieges wurden Menschen aus der Sowjetunion, Frankreich, Italien, Belgien, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen und Dänemark eingeliefert. Anfang 1945 wurde das Lager Endstation für Evakuierungstransporte aus dem KZ Auschwitz.

Die Häftlinge wurden zur Arbeit eingesetzt und durch Arbeit getötet. Andere starben an Unterernährung, Krankheit, durch medizinische Versuche oder durch die Willkür der SS. Insgesamt waren hier über 250.000 Menschen inhaftiert, von denen mehr als 50.000 starben.

Auch wurden in Buchenwald auf Befehl des Oberkommandos der Wehrmacht mehr als 8.000 sowjetische Kriegsgefangene von Sonderkommandos der SS erschossen.

Zwischen 1945 und 1950 internierte der sowjetische Sicherheitsdienst hier im so genannten Speziallager Nr. 2 fast 30.000 Menschen, von denen mehr als 7.000 starben. Die Existenz dieses Lagers wurde zu DDR-Zeiten totgeschwiegen.

Über die Jahre hin wurde aus einem überkonfessionellen Retreat, an dem die Tage von Geistlichen unterschiedlicher Traditionen gestaltet wurden, ein zen-buddhistisches Sesshin, bei dem aber nach wie vor auch Menschen willkommen waren und sind, die nicht dem Buddhismus nahe stehen.

Während Bernie Glassman das Retreat in Auschwitz so anlegt, dass der Ort der Lehrer ist, ist es mir wichtig geworden, bei dem viel kleineren Sesshin in Buchenwald buddhistische Praxis, Lehre und Unterweisung mit der Wirklichkeit eines Erinnerungsortes an dunkle Seiten deutscher Geschichte zusammen zu führen.

Der Tag beginnt mit dem Gang von der Jugendbegegnungsstätte, in der wir übernachten, zum ehemaligen Steinbruch, in dem viele Gefangene durch Arbeit getötet wurden. Dort finden zwei etwa halbstündige Sitzmeditationen unterbrochen von einer Gehmeditation statt. Die Zeit im Steinbruch endet mit einer gemeinsamen Zeremonie und Rezitation.

Nach einem Frühstück in der Jugendbegegnungsstätte findet am ersten Vormittag eine Führung durch das Lager statt, an den anderen Vormittagen beginnt um 9.30 eine zweieinhalbstündige Arbeitsphase, an die sich nach einem Mittagessen und einer kurzen Pause eine zweistündige Arbeitsphase anschließt.

Im Zen ist die selbstlose Arbeit, japanisch Samu genannt, wichtiger Teil der Praxis. In Buchenwald arbeiten wir auf dem Lagergelände. In den letzten Jahren haben wir oft auf dem Gedenkweg gearbeitet, der von Häftlingen gebauten ehemaligen Bahntrasse nach Buchenwald. Auf Initiative eines Weimarer Antifaschisten wird auf dem Gedenkweg an Kinder aus Sinti- und Roma-Familien erinnert, die über diese Trasse von Buchenwald zur Vergasung nach Auschwitz transportiert wurden. Hier helfen wir, Laub und Äste zu entfernen, heben Abwässergräben aus und Verfüllen Löcher im ehemaligen Gleisbett.

Von 16.30 bis 18.00 gibt es die zweite Meditation des Tages, die an unterschied-lichen Orten auf dem Lagerlände durchgeführt wird.

An das Abendessen schließt sich ein ein- bis eineinhalbstündiges Rundgespräch an, in dem wir uns über unser Erleben austauschen.

Der Tag endet mit einem Dharma-Vortrag, einem Zazen und einer Zeremonie in einem der Räume der Jugendbegegnungsstätte.

Mit dieser Form der Praxis verbinden wir uns mit all denen, die früher an diesem Ort waren, sei es als Opfer oder Täter, und all denen, die heute an diesem Ort sind, sei es, weil sie dort arbeiten oder weil sie diesen Ort besuchen.
Mit dieser Form der Praxis verbinden wir uns mit denen in unseren Familien, die auf der Täterseite standen und mit denen in unseren Familien, die auf der Opferseite standen.
Mit dieser Form der Praxis verbinden wir uns mit unserer eigenen Täter- und unserer eigenen Opferseite.
Indem wir diese Verbindungen herstellen, heben wir die Unterschiede zwischen Opfern und Tätern, zwischen Mördern und Ermordeten nicht auf. Wir sehen die Unterschiede, aber indem wir auch die Verbindung sehen, gehen wir über die Unterschiede hinaus. Ansätze von Verständnis, Verzeihung und Versöhnung können sich entwickeln.

Zum Ausdruck kommt das am Schluss einer Widmung, die wir in Weimar-Buchenwald rezitieren:

Lasst uns immer an die Ursachen des Leidens denken.
Lasst uns immer an das Ende des Leidens glauben.
Mögen wir immer den Mut haben, Zeugnis abzulegen,
uns als Andere und Andere als uns selbst zu sehen.
Möge Licht die Dunkelheit der Unwissenheit durchdringen und vertreiben
Möge alles Karma gelöst werden und die Blume des Geistes in ewigem Frühling blühen.
Mögen wir alle zu großem Frieden und großer Liebe aufsteigen
und mögen wir alle gemeinsam den Weg des Erwachens verwirklichen.



Buddha hat sein Zuhause verlassen und ist als Bettler durch die Lande gezogen. Auch viele seiner Schülerinnen und Schüler sind in die Hauslosigkeit eingegangen.

Der Begriff ‚Hauslosigkeit’ wird üblicherweise nur auf das Verlassen des Hauses, in dem jemand wohnt, bezogen. Ich möchte diesen Begriff gerne erweitern, indem ich ihn auch auf das ‚geistige Zuhause’ beziehe: Buddha hat die Menschen, die ihm folgen wollten, nicht nur aufgefordert, ihre Familien und ihr Zuhause zu verlassen, sondern er hat sie auch aufgefordert, jedes geistiges Zuhause, jedes System von Meinungen, Theorien und Autorität zu verlassen, die Dinge selbst zu untersuchen und entsprechend der eigenen Erkenntnis zu handeln.

Ich unterstelle, dass das Gedankensystem des Buddhismus für viele Menschen – und gerade für solche, die wie die meisten von uns, in einer christlichen Religion sozialisiert worden sind – ein Zuhause darstellt, einen Raum, der uns Erklärungsmuster und Handlungshilfen bietet, einen Raum, der uns hilft, Sicherheit in einer nicht gesicherten Wirklichkeit zu entwickeln.

Wenn wir wirklich der Lehre Buddhas folgen wollen, sollten wir bereit sein – zumindest zeitweise, zumindest teilweise – den Schutzraum zu verlassen, den uns die Systeme des überlieferten Buddhismus bieten. Wir sollten bereit sein, uns die Wirklichkeiten des 21. Jahrhunderts anzuschauen, und ausgehend von dem, was wir sehen, neue Praxisformen entwickeln.


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