Oft geht es Menschen, die beginnen,
Zazen zu praktizieren, darum, eine Meditationstechnik auszuprobieren,
um eine Praxis zu finden, die das eigene Wohlbefinden steigert.
Wenn man jedoch die Bedeutung der Praxis im Dojo tief versteht,
begegnet man der wirklichen spirituellen Dimension dieser Praxis.
Ich bin überzeugt, dass es sich hierbei um die Dimension des Bodhisattva
handelt. Diese ist sehr weit und aus meiner Sicht allumfassend.
Zunächst scheint es mir wichtig,
dieses Bodhisattva-Ideal in Bezug zur Lehre Buddhas zu setzen.
Oft wird gesagt, dass das Bodhisattva-Ideal im ersten vorchristlichen
Jahrhundert zusammen mit dem Mahayana-Buddhismus erschienen ist,
und es wird dem Ideal der ersten Schüler Buddhas gegenübergestellt,
dem Arhat-Ideal. Ein Arhat ist ein Heiliger, der sich von allen
Anhaftungen befreit hat, die ihn im Zyklus der Wiedergeburten
hielten. Er hat in diesem Leben das Nirvana, die Auslöschung allen
Leids erreicht, und die Gewissheit, nach seinem Tod nicht mehr
in dieser Welt wiedergeboren zu werden, in dieser Welt, die von
Geburt und Tod bedingt und damit mit Unzufriedenheit, Leid, Trauer
verbunden ist.
Ungefähr vier Jahrhunderte nach
dem Tod Buddhas manifestierte sich eine neue Strömung im Buddhismus,
die dieses Arhat-Ideal als sehr begrenzt empfand, da es die Unterweisung
Buddhas zu einem Mittel reduzierte, dem Zyklus der Wiedergeburten
zu entkommen, und auf eine Vernichtung des Ich in einem Nirvana
abzielte, das sich rein negativ aus der Abwesenheit der bedingten
Existenz in dieser Welt definierte. Das Arhat-Ideal scheint zu
dieser Zeit das Herz und den Geist einiger Schüler Buddhas nicht
so befriedigt zu haben, dass sie ihm als spirituelle Praxis ein
ganzes Leben und sogar mehrere Leben widmen wollten. Daher
legten sie den Akzent auf einen anderen Aspekt der Unterweisung
Buddhas, das Bodhisattva-Ideal. Dabei handelt es sich unbestreitbar
um eine historische Evolution.
Das Bodhisattva-Ideal existierte
jedoch bereits in der Lehre Buddhas und sogar vor ihr, war Buddha
Shakyamuni doch während vieler Existenzen ein Bodhisattva, bevor
er 500 v.Chr. als voll verwirklichter Buddha zu einer sogenannten
letzten Existenz auf die Erde kam. Buddha selbst hat von seinen
Existenzen als Bodhisattva in den Jataka gesprochen, in denen
er die Geschichte seiner früheren Leben erzählt. Der Sinn der
Praxis des späteren Buddha war es in diesen Leben als Bodhisattva
gewesen, nicht nur sein persönliches Heil zu suchen, sondern den
anderen Wesen Hilfe zu bringen, um ihnen die Befreiung aus ihren
Leiden zu ermöglichen. Das Bodhisattva-Ideal ist also nicht einfach
vier Jahrhunderte nach dem Tod Shakyamunis durch eine Art Evolution
entstanden, sondern er selbst hat dieses Ideal gelebt, hat es
gezeigt, hat es während tausender früherer Leben verkörpert.
Die Gelübde der Bodhisattvas
Das Bodhisattva-Ideal kommt
in den vier Gelübden zum Ausdruck, die der Bodhisattva ablegt:
1. Zahlreich sind die lebenden
Wesen. Ich gelobe, sie alle zu retten (oder: ihnen allen zu helfen).
2. Zahlreich sind die Leidenschaften
(und damit die Ursachen des Leidens). Ich gelobe, sie zu lösen.
3. Zahlreich sind die Lehren
(oder Dharma-Pforten). Ich gelobe, sie alle zu studieren und zu
praktizieren.
4. Vollkommen ist der Weg Buddhas.
Ich gelobe, ihn zu verwirklichen.
Zahlreich sind die lebenden
Wesen. Ich gelobe, sie alle zu retten.
Es geht nicht nur darum, die
menschlichen Wesen zu retten, sondern alle Wesen, die sich im
Samsara, in den sechs Welten der Transmigration, befinden:
- die Wesen, die sich in der
Hölle befinden, in ständigem Leiden,
- die Gaki, Wesen, die unter
einer unstillbaren Gier leiden und ein bisschen wie Geister sind,
die in unserer Welt herumirren, aber auch etwas außerhalb dieser
Welt sind,
- die Tiere. Tiere sind fühlende
Wesen, die sich im Zyklus der Wiedergeburten befinden. Man muss
sie respektieren und ihr Leiden, soweit wie möglich, erleichtern.
Die Wiedergeburt als Tier ist keine Wiedergeburt, in der man die
Möglichkeit hat, den Weg zu praktizieren und zu erwachen, und
wird daher als etwas eher Unglückliches angesehen. Dennoch gibt
es bestimmte entwickelte Tiere, z.B. bestimmte Hunde oder Großaffen,
die Mitgefühl und Wohlwollen zeigen. Viele Tiere entwickeln positive
Gefühle und die Fähigkeit zu helfen. Aber sie können sich nicht
auf eine spirituelle, religiöse Praxis, auf die Praxis des Weges
konzentrieren.
- die Menschen. Auf den menschlichen
Zustand richten sich unsere Bemühungen, einem jeden zu helfen.
- die Asura. Manchmal übersetzt
man das mit Titanen, die kriegerischen Geister, die kriegerischen
Götter.
- die Devas, auch sie sind Götter.
Buddha Shakyamuni unterrichtete den Weg auch in der Welt der Götter.
Aber ich glaube das betrifft uns nicht so sehr, wir haben genug
in unserer eigenen Welt zu tun.
Das Handlungsfeld des Bodhisattva
sind also alle fühlenden Wesen. Das ist deswegen von Interesse,
weil man im Buddhismus im Gegensatz zu anderen religiösen Weltsichten
einen Kreislauf und eine Kommunikation zwischen den verschiedenen
Bereichen von Lebewesen sieht. Im Buddhismus wird angenommen,
dass wir selbst in verschiedenen Wiedergeburten diese sechs Welten
schon erlebt haben und daher eine gewisse Nähe zu den Wesen in
diesen Welten haben und die Fähigkeit zur Sympathie für sie, in
welchem Zustand sie sich auch immer befinden mögen, was auch immer
ihr Karma sei.
Mitfühlen, eine der Grundlagen
des ersten Gelübdes des Bodhisattva, allen Wesen zur Hilfe zu
kommen, beginnt, wenn man sich bewusst wird, dass kein menschliches
Leid, kein menschliches Schicksal, kein Schicksal der fühlenden
Wesen einem selbst völlig fremd ist, wenn man sich bewusst wird,
dass man selbst und sei es auch nur potentiell oder als Samen
all diese Leidensursachen in sich hat, die manche in die Hölle
bringen, andere in Welten der Begierde, Welten sehr großen Leids,
andere in Welten der Agressivität, wieder andere vielleicht in
Welten der Extase. Wenn wir unseren Geist während der Meditation
betrachten, erkennen wir alle diese Welten, in denen die fühlende
Wesen ihre Existenz zubringen, und wir erkennen, dass uns nicht
nur nichts von dem fremd ist, was menschlich ist, sondern auch
nichts von dem, was lebt.
Die Praxis der Meditation entwickelt
also die Empathie, den Sinn für der Kommunion und Solidarität
mit allen fühlenden Wesen, indem man sich bewusst wird, dass es
nicht fühlende Wesen auf der einen Seite und einen selbst auf
der anderen Seite gibt, sondern dass in einem selbst alle Zustaände
der fühlenden Wesen existieren.
In der Zazen-Praxis sitzt man
mit nach innen gerichtetem Blick vor der Wand und studiert, wie
man sagt, sich selbst. Man könnte glauben, dass das zu Nabelschau
und Egoismus führt. Aber wenn man richtig praktiziert, erlaubt
es uns diese Praxis, zumindest zeitweise, unsere Identifiaktion
mit unserem kleinen Ego fallenzulassen, die uns in uns selbst
einschließt, die uns daran hindert, uns zu öffnen und die Welt
in ihrem wirklichen Zustand zu sehen.
Oft kommen Menschen zu mir und
fragen mich: „Was soll ich mit meinem Leben anfangen?" Fast nie
fragt mich jemand: „Wie kann mein Leben anderen nützen?" Ich
glaube, dass die Frage, was man aus seinem eigenen Leben machen
soll, ein Hindernis für das Mitgefühl ist. Der Bodhisattva stellt
sich diese Frage nicht mehr, denn für ihn besteht der Sinn seines
Lebens wirklich darin, seine Gelübde zu erfüllen und sein Leben
der Hilfe für alle Lebewesen zu widmen.
Meister Deshimaru hat uns immer
wieder gesagt: „Praktiziert Zazen so, als würdet ihr in euren
Sarg steigen." Er meinte damit, dass man so praktizieren sollte,
als würde man dem Tod gegenüberstehen. In dem Augenblick taucht
die Frage auf: „Was ist wirklich wichtig im Leben?" Ich glaube,
dass es mir im Angesicht des Todes, wichtig wäre, mir sagen zu
können, dass ich während meines Lebens einigen Menschen geholfen
habe.
Das Bodhisattva-Ideal des Mitgefühls
ist kein Gebot, wie wir es aus dem Katechismus kennen „Liebe
Deinen nächsten wie Dich selbst" -, sondern es kommt aus dem Erwachen
durch Zazen heraus, daraus, dass wir verstehen, dass wir und die
anderen nicht getrennt sind. Das heißt nicht, dasss es keine Unterschiede
gibt, dass es keine unterschiedlichen Persönlichkeiten gibt, sondern
dass wir uns nicht grundlegend unterscheiden und in der Tiefe
nicht getrennt sind. Das Gelübde des Mitgefühls ist Ausdruck der
Tatsache, dass wir die Dimension unserer Existenz berührt haben,
die man Buddha-Natur nennen kann, unsere Existenz in Wechselbeziehung
mit allen Wesen. Die Buddha-Natur ist nichts, was man erzeugt,
nicht das Ergebnis intensiver religiöser Praxis. Man hat sie schon
immer, sie ist unvermeidbar: Die Totalität unserer Existenz ist
nichts anderes als dies, nichts anderes als wechselseitige Anhängigkeit.
Aber normalerweise sehen wir uns als etwas an, was wir nicht sind,
glauben, dass wir dieser Körper sind, identifizieren uns mit diesem
Körper, seinen Empfindungen, seinen Gedanken, seinen Wünschen.
Weil all das Bewusstsein hat und nicht sehr beständig erscheint,
fügt man dem eine geistige Konstruktion hinzu, die man „Ich",
Persönlichkeit, nennt. Anschließend setzt man sich das Ziel der
Selbstverwirklichung, der Persönlichkeitsentwicklung, bei der
es um nichts anderes geht als darum, eine aufgesetzte mentale
Konstruktion zu stärken. Dabei übersieht man, dass Körper, Empfindungen,
Gedanken, Wünsche und Bewusstsein nur energetischer Ausdruck der
Wechselbeziehung mit dem ganzen Universum sind, Ausdruck der wechselseitigen
Abhängigkeit zwischen der eigenen Existenz und dem ganzen Universum.
Aus der Sicht der Lehre Buddhas
sind wir in Wirklichkeit bereits alle in dem Sinne erwacht, dass
wir alle bereits an dieser Buddha-Natur teilhaben. Die Praxis
der Meditation ist dazu da, um uns wieder mit der Buddha-Natur
in Berührung zu bringen, und uns zu ermöglichen, die Schranken
in unseren Denkweisen fallenzulassen, die uns daran hindern, die
Einheit, den Nicht-Unterschied, die Nicht-Getrenntheit zu sehen.
Das Bodhisattva-Ideal stellt also keine Bemühung dar, besser oder
mehr zu sein als wir sind, sondern ist eher der Ausdruck dessen,
dass wir uns dem annähern, was wir in der Tiefe schon immer sind.
Das erste Gelübde formuliert
„um allen Wesen zu helfen". Aber in Wirklichkeit geht es um das
Heil der anderen Wesen. Dies ist ein sehr wichtiger Punkt, denn
oft beginnt man ausgehend von der Zazen-Praxis, sich um andere
zu kümmern. Glücklicherweise sind es nicht nur Menschen, die Zazen
praktizieren, die sich um andere sorgen, aber man sieht z.B. bei
Zen-Praktizierenden, dass sie, wenn sie sich beruflich verändert,
eher in helfende Berufe gehen als in Business-Berufe. Aber manchmal
wird übersehen, dass es bei dem ersten Gelübde des Bodhisattva
nicht um gewöhnliche Hilfe geht. Natürlich heißt es, dass ein
Bodhisattva alle möglichen geeigneten Mittel, alle upayas, benutzt,
um allen Wesen zu helfen und ihre unterschiedlichen Leiden zu
verringern. Daraus folgt selbstverständlich, dass ein Bodhisattva
Arzt oder Therapeutin werden kann und allen helfen kann, die ihn
zufällig kennenlernen. Aber das ist nicht die wirkliche Dimension
des Mitgefühls des Bodhisattva. Denn wirkliches Mitgefühl besteht
nicht einfach darin, die Leiden mindern, indem man den Armen Geld,
den Hungrigen Nahrung und den Kranken Medizin gibt, so wichtig
und richtig dies auch ist. Diese caritative Dimension ist nicht
die des Bodhisattva. Ihm geht es darum, allen Wesen zu helfen,
das höchste Erwachen zu erlangen, die wirkliche Dimension ihrer
Existenz. Man könnte sich damit zufrieden geben, caritative Werke
zu tun, und glauben, so seine Berufung als Bodhisattva zu erfüllen.
Aber wenn man als Therapeutin z.B. Neurosen heilt, hat man zwar
Leiden gemindert, die Wurzel des Leids jedoch nicht berührt. Das
Ideal des Bodhisattva ist es, sowohl bei sich selbst als auch
bei anderen die Wurzel des Leids zu lösen, indem er es jedem ermöglicht,
durch die Praxis der Meditation mit dem Weg, dem Dharma Buddhas
in Kontakt zu kommen und dadurch jedem zu ermöglichen, seinerseits
ein Bodhisattva zu werden.
Zahlreich sind die Leidenschaften.
Ich gelobe, sie zu lösen.
Das zweite Gelübde ist das konkrete
Gelübde, alle Wurzeln des Leids, alle Bonno, zu beseitigen, nicht
nur die Wurzeln eigenen Leids, sondern alle. Es handelt sich somit
um ein sehr großes Aufgabenfeld. Insgesamt gibt es 108 Bonno.
Es sind dies die Leidenschaften, die unser Leiden verursachen.
Nicht zu den Bonno zählen unabwendbare existentielle Gegebenheiten
wie Geburt, Krankheit, Alter und Tod. Als Bonno bezeichnet man
die Anhaftungen, die wir aufgrund unserer Unwissenheit und Verblendung
selbst schaffen.
Das erste grundlegende Bonno
ist also unsere Unwissenheit, das Nicht-Erkennen unserer wirklichen
Natur, das Nicht-Erkennen der Lehren des Dharma, das dazu führt,
dass wir die Dinge in einer täuschenden Weise wahrnehmen, die
ihrerseits einen Handlungsprozess, ein Karma auslöst, welches
wiederum das Leiden hervorruft.
Wenn der Bodhisattva gelobt,
den Bonno ein Ende zu bereiten, gelobt er zunächst einmal, seine
eigene Unwissenheit zu aufzuklären. Es ist ein wichtiger Aspekt
unserer Zazen-Praxis, das Licht des Bewusstseins von Zazen auf
unsere Unwissenheit, auf unsere Verblendung scheinen zu lassen,
auf das, was bewirkt, dass wir weder uns selbst verstehen, noch
unsere Existenzweise, noch unsere Anhaftungen, noch wie wir uns
von ihnen befreien können. Für einen Buddhisten bedeutet Unwissenheit,
die Vier Edlen Wahrheiten und die Lehre Buddhas zu ignorieren,
sie nicht selbst tief erfahren, gelebt und erhellt zu haben.
Das zweite grundlegende Bonno
ist die Gier, all das, was mit dem Wunsch, etwas zu besitzen zu
tun hat, dem persönlich Vergnügen. Es umfasst nicht den altruistischen
Wunsch des Bodhisattva, allen Wesen zu helfen. Buddha, der Bodhisattva,
der Zen-Mönch, die Zen-Nonne haben einen sehr großen Wunsch, den
Wunsch des Heils. Man nennt dies den Geist des Erwachens, auf
Sanskrit bodhichitta, auf Japanisch Bodaishin. Bei dem, was Buddha
als Gier beschreibt, handelt es sich um die Gier der Sinne, die
Gier nach Existenz und den Wunsch nach Nicht-Existenz. Das erste
ist am offensichtlichsten: genießen und besitzen. Der Wunsch nach
Existenz bedeutet in einer ganz bestimmten Situation leben zu
wollen, wo doch alles unbeständig ist. Bei dem Wunsch nach Nicht-Existenz
handelt es sich nicht einfach um den depressiven Geist, der seinen
Tagen ein Ende setzen möchte, der Selbstmord begehen möchte. es
geht um den Wunsch, nicht in den gegebenen Umständen leben zu
wollen. Z.B. liegt jemand krank zu Bett und möchte nicht mit dieser
Krankheit leben. Es handelt sich um all das, was uns veranlasst
etwas zurückzuweisen. Meister Sosan hat das in der ersten Strophe
des Shin Jin Mei, des ersten großen Zen-Gedichts, sehr gut ausgedrückt:
„Den Weg zu verwirklichen ist nicht schwer, man muss nur frei
sein von Vorlieben und Abneigungen, von Vorziehen und Ablehnen."
Das dritte Bonno ist der Hass,
sowohl der Wunsch nach Nicht-Existenz als auch der Wunsch, dass
alle Umstände, die uns stören, nicht existieren. Es geht also
um den Wunsch, die anderen auszurotten oder zumindest uns ihnen
gegenüber durchzusetzen, wenn sie uns stören. Dabei kann es sich
z.B. um einen kleinen Konflikt zwischen Partnern handeln, um eine
Auseinandersetzung zwischen sozialen Klassen oder um weltweite
Konflikte. Diejenigen, die den Weg praktizieren geloben, diese
drei Gifte auszurotten.
Aber es gibt noch viele weitere,
z.B. den Zweifel. Nicht den Zweifel, der es erlaubt, die Wahrheit
zu vertiefen, sondern den nagenden Zweifel, der daran hindert,
Vertrauen in den Weg zu haben, auf dem man sich engagiert hat,
und der schließlich dazu führt, dass man gelähmt auf der Stelle
bleibt. Dieser Zweifel wurde in der Lehre Buddhas als großes Hindernis
gesehen, weil man ständig seine Lehre und Praxis in Frage stellt:
Eines Tages steht man auf und geht zum Zazen, am nächsten tag
bleibt man im Bett und fragt sich, ob es die Mühe wert sei zu
praktizieren. Das verhindert den Fortschritt. Selbst wenn man
nicht völlig vertrauen kann oder kein völliges Vertrauen hat,
kann man zumindest einen Vertrauensvorschuss einräumen und sich
sagen: Ich werde ein Jahr oder zwei praktizieren, mir einen Zeitraum
geben, in dem die Zweifel abfallen können.
Es gibt viele weiter Bonno, vor
allem alle intellektuellen Anhaftungen. Diese werden im Buddhismus
als sehr schädlich angesehen. Es handelt sich um falsche Vorstellungen,
z.B. den Glauben an ein selbständig existierendes Ego, den Glauben
an die Nicht-Existenz nach dem Tod oder im Gegensatz dazu -
den Glauben an eine ewige Existenz. Schließlich alle dogmatischen
Vorstellungen, Vorstellungen, die nicht aus eigenem Erleben stammen,
von deren Wahrheit man sich nicht selbst überzeugt hat.
Weitere Bonnos sind der Hochmut,
der Geiz, die Wut, schließlich kommt man auf 108.
Wie die ersten Schüler des Buddha
legt der Bodhisattva das Gelübde ab, seinen Bonno ein Ende zu
setzen. Der Unterschied besteht zwischen dem Ideal des Bodhisattva
und dem Ideal des Arhat. Dieser möchte seine Bonno so schnell
wie möglich beenden, um den Zyklus der Wiedergeburten zu beenden.
Der Erfolg besteht also darin, in diesem Leben ein Arhat zu werden.
Arhat zu sein, heißt für das Nirvana bestimmt zu sein. Nirvana
ist dabei kein Ort, sondern etwas Unbeschreibbares, das die völlige
Auslöschung dessen ist, was unsere Wiedergeburten im Samsara bedingt,
also im Kreislauf der sechs Welten, von denen ich eben gesprochen
habe.
Da der Bodhisattva gelobt, so
lange nicht in ein endgültiges Nirvana einzugehen, so lange es
noch leidende Wesen gibt, ist klar, dass es für ihn nicht wünschenswert
ist, hier und jetzt seinen Bonno eine Ende zu setzen, denn kein
Bonno und keine Anhaftung mehr würde bedeuten, im Nirvana zu verschwinden
und keinen Kontakt mit der Welt der Leiden mehr zu haben. Dies
ist nicht das Ziel des Bodhisattva.
Der Bodhisattva entschärft seine
Bonno, d.h. er lässt sich nicht von ihnen vorantreiben, bleibt
jedoch in Kontakt mit ihnen und sei es nur darum, um diese menschliche
Dimension beizubehalten, den Kontakt mit den Leidensursachen der
anderen. Das ist nicht ganz ungefährlich, denn man könnte den
Gedanken falsch interpretieren. Menschen könnten sich sagen: „Ich
werde all meine Leidenschaften beibehalten, meine Bonno, meine
Anhaftungen, denn Bodhisattva sein, heißt, in die Bonno eintauchen."
Aber es geht darum, nicht um jeden Preis die Bonno sofort und
so schnell wie möglich abzuschneiden, um mit egoistischem Geist
der Welt zu entkommen.
Auf einer tieferen Ebene kann
man sagen, dass der Bodhisattva die Leerheit verwirklicht hat.
Denn der Bodhisattva hat nicht nur das Ideal des Mitgefühls, sondern
er ist auch jemand, der die Leerheit nicht nur seiner eigenen
Persönlichkeit, seines eigenen Ego verstanden hat, sondern auch
die aller Dinge, darunter auch die der Bonno. Unter dem Blickwinkel
der Leerheit haben selbst die Bonno keine Substanz. Sie um jeden
Preis auslöschen zu wollen, wäre wie gegen Windmühlenflügel zu
kämpfen, gegen etwas, das keine substantielle Existenz hat. Sie
um jeden Preis auslöschen zu wollen, bedeutet ihnen Konsistenz
zu geben und sie damit fast sogar zu bestärken, ihnen eine Wirklichkeit
zu geben, die sie nicht haben. Die Weisheit, aufgrund derer der
Bodhisattva am besten geeignet ist, sich selbst und den anderen
zu helfen, die Bonno zu lösen, besteht darin, diese Leerheit zu
verstehen. Aufgrund dieser rechten Sicht der Leerheit, die die
Grundlagen der Anhaftungen untergräbt, kann der Bodhisattva besser
handeln als durch eine vom Willen gesteuerte Askese. Denn dafür
zu sein, den Bonno zu folgen, oder gegen sie zu sein, hält uns
auf jeden Fall in einem dualistischen Geisteszustand, wohingegen
Leiden und Anhaftung nur überwunden werden kann, indem die Wurzel
allen Leidens, aller Anhaftungen überwunden wird: der dualistische
Geist.
Der Bodhisattva sieht also die
Leerheit der Bonno und nimmt ihnen ihre Kraft. Das geschieht aber
nicht auf magische und unmittelbare Weise, selbst wenn man von
unmittelbarem Erwachen spricht. Es handelt sich um eine Sichtweise,
zu der wir immer wieder zurückkehren und die wir immer mehr vertiefen
müssen, so dass die Wirksamkeit der Anhaftungen abnimmt, die verursachen,
dass wir leiden und Quelle von Leid anderer sind.
Zahlreich sind die Lehren.
Ich gelobe, sie alle zu studieren und zu praktizieren.
Das dritte Gelübde ist das Gelübde,
alle Lehren Buddhas, alle Dharma-Pforten zu studieren. Was sind
die Homon, die Dharma-Pforten? Aus Sicht des Zen könnte man sagen,
dass es nur eine Pforte gibt: Zazen. In gewissem Sinn trifft das
zu, denn Zazen ist die große Dharma-Pforte, die Pforte, durch
die Buddha selbst in das Erwachen eingetreten ist. Das, was er
in den folgenden 45 Jahren gelehrt hat, war Ausdruck der Weisheit
und des Mitgefühls, das mit dem Erwachen verbunden war, das er
verwirklicht hat, als er unter dem Bodhibaum saß. Wir sprechen
von Zazen, andere nennen es Samatta-Vipassana. Es handelt sich
um unterschiedliche Worte, die die Praxis der Konzentration und
Beobachtung bezeichnen, die die Grundlage aller Meditationsformen
ist, die vom Erwachen Buddhas inspiriert wurden.
Ausgehend von dieser Unterweisung
entstanden alle Lehren Buddhas. Man hat gesagt, dass die Schüler
des sogenannten Kleinen Fahrzeugs, die sich von den Bodhisattvas
unterscheiden, den Achtfachen Pfad praktizieren; ihnen geht es
darum, die Vier Edlen Wahrheiten verwirklichen, also das Leiden
und seine Ursachen zu verstehen und es durch die Praxis des Achtfachen
Pfades zu überwinden. Hierbei handelt es sich um die acht rechten
Wege, die man allgemein zusammenfasst als die Praxis der Ethik,
der Konzentration und Meditation und schließlich der Weisheit.
Man sagt, dass der Weg des Bodhisattva
sich von dem genannten Weg unterscheidet, denn die Dharma-Pforte
des Bodhisattva ist nicht der Achtfache Pfad, sondern die Praxis
der sechs Paramita. Für mich gibt es in der Tiefe nur ein einziges
Fahrzeug. Es handelt sich um eine Frage des Geistes, aber die
Praktiken gleichen sich grundlegend. Man findet den Achtfachen
Pfad in den sechs Paramita wieder.
Das erste Paramita ist die Gabe,
die Großzügigkeit. Um den Bezug zum Achtfachen Pfad aufzuzeigen:
Die Gabe ist Teil der rechten Handlung. - Es ist interessant,
dass unter den Praktiken des Bodhisattva die Gabe den ersten Platz
einnimmt. Dies zeigt, dass die Großzügigkeit der wichtigste Aspekt
seiner Praxis ist, das, was ihn beseelt.
Großzügigkeit ist nicht einfach
das Gegenteil von Geiz und es ist auch nicht alle Welt beschenken.
Großzügigkeit besteht darin, sich selbst dem Weg hinzugeben für
das Glück der anderen, um allen Wesen zu helfen, die Gabe all
seiner Energie und seiner ganzen Existenz auf diesem Weg. Darauf
aufbauend sind die verschiedensten Gaben möglich und vorstellbar:
das Geben eines guten Wortes, das Geben einer Lehre, das Schenken
eines Lächelns, eines Blicks, das Schenken von Aufmerksamkeit.
Ein Tag besteht aus vielen Gelegenheiten zu geben oder es zu
vergessen.
Die Praxis Buddhas enthält immer
zwei Aspekte, ob es sich nun um die Praxis des Kleinen Fahrzeugs,
die Praxis des Achtfachen Pfades, oder die der sechs Paramita
handelt. Zum einen die Dimension, in der das, was man praktiziert
positive Folgen, Verdienste, nach sich zieht und somit gutes Karma,
Glück und eine gute Wiedergeburt. Dies ist die niedrigste Dimension,
sie wird von Buddha unterwiesen und ist nicht zu vernachlässigen.
Die andere Dimension ist, dass jede Praxis in sich selbst unmittellbare
Befreiung, Loslassen und Erwachen ist. Dies gilt auch für die
Gabe: Man hat die Verdienste des Gebens sehr hervorgehoben. Einerseits
ermöglicht sie es, unter guten Bedingungen, sogar in Buddha-Ländern
wiedergeboren zu werden, seine spirituelle Entwicklung unter besseren
Bedingungen vollenden zu können, anderseits aber ist das Geben
sofortige Befreiung, da man eine Anhaftung aufgibt, seine Gier
loslässt. Das hängt natürlich von dem Geist ab, in dem man gibt.
Im wirklichen Geben, dem Geben des Bodhisattvas, so wie es z.B.
im Diamant-Sutra gelehrt wird, gibt es keinen Gebenden, keine
Gabe und niemand, der eine Gabe empfängt. Dies ist das absolute
Geben, in dem es keinerlei Anhaftung gibt, weder an einen Gebenden,
noch an Verdienste, keine Erwartung, dass die Gabe anerkannt wird,
keine Anhaftung an sich selbst, überhaupt keine Anhaftung. Es
handelt sich hier um das Geben als vollkommene Praxis der Loslösung.
So zu geben ist vollkommene Befreiung, vollkommenes Erwachen,
vollkommenes Satori.
Das zweite Paramita sind die
Gebote. Ich werde auf sie nicht detailliert eingehen, sie wären
Gegenstand eines eigenen Vortrags. Die Gebote zu empfangen ist
jedoch ein grundlegender Vorgang in der Bodhisattva-Ordination.
Man gelobt, die Gebote zu schützen: nicht töten, nicht stehlen,
nicht lügen, keine schlechte Sexualität, sich nicht vergiften
keine Drogen, kein Alkoholmissbrauch -, sich nicht über andere
erheben und auf sie herabschauen, nicht hochmütig sein, nicht
kritisieren, weder geizig noch wütend sein, nicht die Drei Kostbarkeiten
verleumden.
Diese zehn Gebote, die man im
Achtfachen Pfad wiederfinden kann, werden nicht einfach geschützt,
um schlechtes Karma zu vermeiden und gutes Karma hervorzurufen,
sondern sind Aktualisierung der Buddha-Natur. Die Gebote haben
keine geringe Bedeutung. Manchmal hört man, die Gebote, die Moral,
die Ethik seien die Grundschule des Weges. Die größten Zen-Meister
haben die Praxis der Gebote jedoch als Ausdruck des Erwachens
angesehen, in dem Sinne, dass man, um tatsächlich die Vollkommenheit
der Gebote zu verwirklichen, das Nicht-Anhaften an das Ego verwirklichen
muss. Nur so ist es möglich, wirklich nicht zu töten, nicht zu
stehlen, nicht zu lügen, usw.
Die nächsten beiden Paramita
sind die Geduld und die Bemühung. Geduld ist für einen Bodhisattva
erforderlich, denn sein Gelübde erstreckt sich nicht nur auf dieses
Leben. Der Bodhisattva legt sein Gelübde bis an das Ende der Zeiten
ab, auch wenn es nach Auffassung des Buddhismus kein Ende der
Zeiten gibt. Die Gelübde beinhalten auch das Gelübde, sich während
Tausend, Millionen, Milliarden Wiedergeburten auf sie zu konzentrieren,
solange bis alle fühlenden Wesen das Erwachen verwirklicht haben.
Man muss also die Geduld haben, über lange Zeit in dieser Welt
wiedergeboren zu werden und muss diese Wiedergeburten akzeptieren,
während der Arhat, der Schüler des Kleinen Fahrzeugs, eine Phobie
davor hat, in dieser Welt wiedergeboren zu werden. Der Bodhisattva
kommt voller Freude in sie zurück und taucht in sie ein, nicht
weil er sich an die Existenz klammert, sondern weil er von einem
Gelübde beseelt ist, das dieser Existenz einen Sinn gibt, das
bewirkt, dass das Dasein in einer Welt des Leidens Sinn macht,
Freude weckt und Energie gibt, da man sich in einer Richtung bewegt,
die völlig mit unserer tiefen Natur übereinstimmt. Das Gelübde
ist ihr Ausdruck.
Die Bemühung gehört in den gleichen
Bereich, nur dass das, was wir als Paramita der Bemühung bezeichnen,
in Wirklichkeit die Energie ist. Wir nutzen die Energie, die wir
empfangen haben und die unsere Seinsbestandteile über einen gewissen
Zeitraum zusammenhält, für den Weg, kanalisieren sie auf den Weg.
Die Energie benutzen bedeutet nicht, wie das heute so oft üblich
ist, sie zu verschwenden, sondern wirklich diesen Körper, diese
Energie, diese zur Verfügung stehende Zeit für die Praxis zu verwenden
und dazu, den anderen zu helfen.
Die beiden letzten Paramita sind
die Meditation und die Weisheit.
In der Meditation, in Zazen,
gibt man die gewöhnliche Funktionsweise des Geistes auf, des Geistes,
der von dem Wunsch konditioniert ist, das zu erhalten, was er
mag, und das zurückzuweisen, was er nicht mag. Selbst wenn diese
Geisteshaltung für den Lebensunterhalt erforederlich ist, so werden
wir jedoch viel leiden, wenn wir uns von diesem Geist leiten lassen,
und unser Leben wird begrenzt. Zazen ermöglicht es, sich von dieser
Geisteshaltung zu befreien und einen Geist zu verwirklichen, der
über Zuneigung und Abneigung hinausgeht und alles umfasst. Wenn
man den gewöhnlichen Geist, der haben oder zurückweisen möchte,
aufgibt, empfindet man eine große Freude, das große Glück, einfach
in Frieden zu sitzen, in Frieden mit den anderen und mit sich
selbst.
Aber selbst in der größten Vertrautheit
bleibt etwas Geheimnisvolles, nicht Greifbares: Selbst wann man
meint, sich völlig zu kennen, völlig vertraut mit dem eigenen
Geist zu sein, können letztlich unsere Augen sich selbst nicht
sehen und unser eigener Geist bleibt für uns selbst unfassbar.
Wenn wir dies nicht ablehnen, sondern als tiefste Wirklichkeit
unserer Existenz akzeptieren, kann man völlig loslassen. Statt
zu meinen, dass man weiß und versteht, bewahrt man sich die Fähigkeit,
erstaunt zu sein.
Weisheit ist ein wesentlicher
Punkt, wenn man vom Bodhisattva spricht. Oft sagt man, der Bodhisattva
sei mushotoku, habe kein Ziel. In Wirklichkeit hat er jedoch ein
nicht-egoistisches Ziel, ein großzügiges, altruistisches Ziel,
das Ziel das Höchste Erwachen zu verwirklichen. Dies kann nur
durch prajna hindurch geschehen, durch die Verwirklichung der
Weisheit, die es uns ermöglicht, tief und vollständig zu erwachen,
ausgehend von einem vertrauten und tiefen Verständnis der Leerheit.
Diese Weisheit entwickelt sich zugleich durch die Praxis der Meditation,
durch das Nachdenken über die Lehre Buddhas und durch die Fähigkeit,
die Lehren des Lebens aufzunehmen zu. Es heißt z.B., dass Meister
Eno, obwohl er Analphabet war, die Fähigkeit besaß, die Lehren
der Natur, die Lehren aller Existenzen aufzunehmen. Schließlich
findet sich das Dharma Buddhas nicht nur in Büchern, sondern auch
in der Natur, im Herzen jedes Lebewesens. Indem man die Natur,
das Leben, betrachtet, indem man das Leben versteht, kann man
das Dharma Buddhas verstehen. Meditation ermöglicht es, die Augen
für die Wirklichkeit des Lebens zu öffnen. Meister Deshimaru wurde
gelegentlich gebeten, in einem Wort zu sagen, was Zazen sei. Manchmal
war die Antwort „Zazen", manchmal „das Leben", selbstverständlich
das erwachte Leben.
Das sind die homon, die Pforten,
die Lehren Buddhas.
Eine dritte, ebenfalls wichtige
Lehre bezieht sich auf das Verständnis des der zwölf wechselseitig
abhängigen Ursachen, die bewirken, dass sich das Rad des Lebens
dreht. Darauf einzugehen würde jedoch den Rahmen des Vortrags
sprengen.
Vollkommen ist der Weg
Buddhas. Ich gelobe, ihn zu verwirklichen.
Auch beim vierten Gelübde des
Bodhisattva gibt es einen Unterschied zwischen dem, was der Bodhisattva
anstrebt, und dem, worauf der Arhat ausgerichtet ist. Ich habe
schon darauf hingewiesen, dass man das Ideal des Arhats im Vergleich
zu dem des Bodhisattva als begrenzt angesehen hat, begrenzt weil
egoistisch: Ich und ich allein - will das Nirvana möglichst
schnell erlangen, die anderen sind später dran, ich werde ihnen
in diesem Leben helfen, aber es ist ihr Problem. Auch die Mönche
des Kleinen Fahrzeugs haben Mitgefühl, Mitleid, lehren und helfen.
Aber sie beschränken sich auf dieses Leben, denn nach der Definition
dessen, was ein Arhat ist, ist dieses Leben sein letztes. Darum
ruft er „Sieg!", darum wird er nicht mehr wiedergeboren. Seine
Fähigkeit anderen zu helfen ist somit begrenzt, denn es gibt viele
Zeiten, ein Leben ist kurz und die Zahl der Wesen ist so unendlich,
dass ein einziges Leben nicht reicht. Die Begrenztheit des Erwachens
des Arhat liegt darin, dass es nicht alle Wesen umfasst und auch
nicht die Mittel, um allen Wesen zu helfen. Das Mittel, allen
Wesen zu helfen, besteht darin, das Höchste Erwachen zu verwirklichen.
Warum hat der Bodhisattva das
Ideal, das Höchste Erwachen zu verwirklichen? Was enthält das
Höchste Erwachen, das das Erwachen des Arhats nicht enthält? Es
ist die Kenntnis der upaya, die Kenntnis aller Mittel, um allen
zu helfen. Manchmal sagt man, der Unterschied zwischen einem samyaku-sambodhi,
d.h. einem Buddha, der das Höchste Erwachen verwircklicht hat,
und einem Arhat liegt darin, dass ersterer über Allwissenheit
verfügt. Allwissenheit beschränkt sich nicht auf völlige Hellsichtigkeit,
auf das Verstehen aller Phänomene, sie zeigt sich darin, dass
man über alle Mittel verfügt, allen Wesen zur Hilfe zu eilen.
Deshalb möchte der Bodhisattva das Höchste Erwachen verwirklichen,
deshalb gibt er sich nicht mit einem eingeschränkten Erwachen
zufrieden.
Da es das Ziel meines Vortrages
ist, alle den Bodhisattva betreffenden Aspekte anzusprechen, möchte
ich noch auf einen weitern Punkt eingehen: Mit dem Ideal des Mahayana,
des Großen Fahrzeugs, entwickelte sich die Vorstellung, dass Bodhisattvas
nicht nur auf der Erde existieren, sondern auch in anderen Sphären.
Das mag wunderbar und magisch
erscheinen. Der religiös wichtige Gesichtspunkt ist der, dass
man zu diesen Bodhisattvas beten kann. Es ist bekannt, dass Menschen,
die sich in Schwierigkeiten befinden, das Bedürfnis haben, sich
im Gebet an ein höheres, mitfühlendes Wesen zu wenden, das zur
Hilfe kommt. Oft haben mich Schülerinnen und Schüler gefragt,
ob man im Buddhismus, im Zen auch beten kann. Da man nicht an
Gott glaubt und somit niemanden hat, zu dem man beten kann, kann
man zu den Bodhisattvas beten. In den Zen-Tempeln rezitiert man
oft das Kannon Gyo, das Sutra von Kannon. Kannon ist Avalokiteshvara,
der Bodhisattva des Großen Mitgefühls. Er lebt als Bodhisattva
im Himmel und manifestiert sich auf der Erde in ganz verschiedenen
Formen, als Mann, Frau, Kind, Mönch, Nonne, manchmal sogar als
Tier.
Alle Wesen können also Bodhisattvas
sein. Das können sie glauben oder auch nicht. Aber es ist interessant
zu sehen, dass der Mahayana-Buddhismus diese weite Vision der
Existenz entwickelt hat. Ich glaube, dass sie eine große Hilfe
für die Menschen ist, die sich auf dem Weg der spirituellen Evolution
befinden.
Fragen:
Der Bodhisattva muss alle
lebenden Wesen ins Nirvana geleiten. Bedeutet das nicht, das Leben
im Universum zu zerstören?
Aus der Sicht des Bodhisattva
gibt es keine Dualität zwischen Nirvana und Samsara. Beide sind
Leerheit. Wenn man das versteht, kann man im Samsara sein und
es wie das Nirvana leben. Man sagt, dass der Bodhisattva dem Nirvana
entsagt. In Wirklichkeit hat er aber das Nirvana bereits verwirklicht,
aufgrund seiner Opferbereitschaft, seiner Großzügigkeit, seiner
uneigennützigen Praxis, der völligen Aufgabe seines Egoismus´.
Bei diesem Nirvana handelt es sich nicht um ein Nirvana der Vernichtung.
Es wird einzig und allein die Anhaftung und die Leidensursache
vernichtet, nicht jedoch die Existenz.
Der Bodhisattva hat keine Angst
vor dem Kreislauf der Wiedergeburten, denn er hat keine Angst
davor, zu sterben und wiedergeboren zu werden. Da er ohne egoistischen
Anhaftungen ist, ist für ihn das Samsara bereits das Nirvana.
Wenn er sagt, dass er alle lebenden Wesen bis zur Schwelle des
Nirvana geleiten wird, so heißt das nicht, dass er sie bis zur
Schwelle ihrer Auflösung im Nirvana begleiten würde, sondern bis
zur Schwelle ihrer Befreiung, wo sie ihrerseits keinen Unterschied
mehr machen zwischen Nirvana und Samsara.
Ist die Ursache der Existenz
nur das Karma? Wenn es kein Karma mehr gibt, gibt es dann keine
Existenz mehr?
Das ist eine subtile philosophische
Frage. Man könnte sich sagen, dass der Bodhisattva seinem Karma
kein Ende setzen dürfte, denn hätte er kein Karma mehr, würde
er nicht mehr wiedergeboren und könnte nicht mehr helfen. Ich
bin darauf eben schon eingegangen. Dem ist nicht so. Die Existenz
wird nicht nur vom Karma, Gier oder Hass, verursacht, ihre Ursache
kann auch im Mitgefühl, im Gelübde liegen. Man kann wiedergeboren
werden, weil man von einem Wunsch beseelt ist, aber einem altruistischen
Wunsch, dem, allen Wesen allen Wesen zur Hilfe zu kommen.
Das lebende Nirvana, das in
dieser Welt vollendet wird, wäre eine Welt, in der jede und jeder
das Gelübde, allen anderen zu helfen, ablegen würde. Um das am
Beispiel eines Paares zu erläutern: Im idealen, vollkommenen Paar
konzentriert sich jeder Partner voller Mitgefühl und Wohlwollen
völlig darauf, das Leiden des anderen zu verringern und den anderen
glücklich zu machen. In diesem Augenblick haben die beiden die
Bedingungen für ein völlig befreites und glückliches Leben geschaffen
und können unabhängig vom Rest der Welt leben. Wenn alle Welt
mit den Gelübden des Bodhisattva leben würde, wären alle Leidensursachen
beseitigt.
Welche Bedeutung hat die Bodhisattva-Ordination?
Die erste Ordination, die wir
in unserer Tradition weitergeben, ist die des Bodhisattva. Es
gibt die Tendenz, zwischen denen zu unterscheiden, die Bodhisattvas
sind, und denen, die nicht ordiniert sind, und die Tendenz, Bodhisattvas
den Mönchen und Nonnen gegenüberzustellen. Diese Unterscheidungen
sind nicht richtig, denn ob man Bodhisattva ist, hängt nicht von
einer Ordination ab, sondern von dem Geist, in dem man praktiziert.
Man kann also durchaus die Ordination als Bodhisattva empfangen
haben und nicht den Geist des Bodhisattva praktizieren. Als Mönch
oder Nonne muss man sogar mehr Bodhisattva sein, als diejenigen,
die nur als Bodhisattva ordiniert sind. Zutreffender ist es zu
sagen, dass die Bodhisattva-Ordination die Ordination der Laien-Schüler
ist, die das Gelübde ablegen, den Drei Kostbarkeiten zu folgen.
Sie geloben, Buddha, und seiner Lehre zu folgen und treten der
Gemeinschaft bei, um in ihr alle Aspekte der spirituellen Dimension
zu leben. Man bittet also in dem Augenblick um die Bodhisattva-Ordination,
in dem man spürt, dass die Zazen-Praxis keine Entspannungstechnik
neben anderen ist, sondern die spirituelle Dimension berührt,
die uns belebt und die der Weg wird, dem man folgen möchte. Man
bittet um die Bodhisattva-Ordination, weil man in ihr die Gelübde
des Bodhisattva ablegt. Wenn man dann Mönch oder Nonne wird, geht
es darum, sich noch mehr und noch intensiver um die Erfüllung
der Bodhisattva-Gelübde zu bemühen.
Sie haben gesagt, dass man,
wenn man in sozialen Berufen arbeitet, man Leiden gemindert, die
Wurzel des Leids jedoch nicht berührt. Könnten Sie dazu etwas
mehr sagen?
Man muss selbstverständlich den
Kranken helfen, also ist es gut, dass es Ärzte und Therapeuten
gibt. Aber es kann nicht darum gehen, allen zu helfen, gesund
zu sein und das Leben von Dummköpfen zu führen. Was nützt es,
gesund zu sein, wenn man seine Zeit, seine Energie, das kostbare
menschliche Leben, das man empfangen hat, nicht dazu nutzt, das
zu verwirklichen, was seinen tiefen Sinn ausmacht?
Offensichtlich ist ist es besser,
schön, reich und gesund zu sein, als hässlich, arm und krank.
Buddha war diesem Offensichtlichen gegenüber etwas skeptisch.
Wenn man schön, reich, gesund, mit einem guten genetischen Erbe
wiedergeboren wird, handelt es sich um die Frucht eines guten
Karmas der Vergangenheit. Das ist nicht nichts, aber nicht Sinn
der Praxis Buddhas. Denn ein gutes vergangenes Karma ist ein gutes
Karma, weil es uns theoretisch, aber nicht zwingend bessere
Bedingungen gibt, um den Weg zu praktizieren. Oft ist das aber
nicht wirklich der Fall, denn wenn man schön, reich und gesund
ist, neigt man dazu, sich zu sagen, dass man alles hat, um sich
des Lebens zu erfreuen. Man wird also möglichst viel Lebensfreude
anstreben, und das wird das Ziel der Existenz. Wenn man hingegen
hässlich, krank und arm ist, kann man sich entweder sagen, dass
man sich dafür rächen muss das kann jeden spirituellen Ansatz
verhindern -, oder man wird sich bewusst, dass es Leiden gibt.
Man wird sich des Ursprungs des Leidens bewusst. Dieser liegt
nicht darin, dass Gesundheit, Geld oder Schönheit fehlen, sondern
viel tiefer, in unserer Gier, in unserem Wunsch, ständig mehr
zu haben, weil es uns nicht gelingt, in Einklang mit unserer wirklichen
Natur zu sein, mit dem, was wir in der Tiefe sind, weil es uns
nicht gelingt, unser spirituelles Erwachen zu verwirklichen. Deshalb
verfällt man dem Gift der Gier, die nie zufrieden ist: wenn man
reich ist, hat man nie genug, wenn man gesund ist, möchte man,
dass man gesund bleibt bis man hundert Jahre alt ist.
Der Buddhismus verdammt das Vergnügen
nicht, befürwortet nicht Kasteiung. Aber das Glück, das aus der
Befriedigung unserer Wünsche entsteht, wird von Buddha und denjenigen,
die seiner Lehre folgen, als etwas angesehn, was letztlich unbefriedigend
bleibt, weil es unbeständig ist: Selbst wenn man hundert Jahre
alt wird, muss man eines Tages diese Existenz verlassen. Selbst
wenn unser einziges Ziel darin besteht, so lange wie möglich gesund
zu bleiben, wird die gute Gesundheit ein Ende haben. Man wird
also eines Tages deprimiert werden, weil man zu der Erkenntnis
kommt, dass alle Anstrengungen letztlich ohne Erfolg blieben.
Und vor allen Dingen, weil man etwas anderes übersehen hat. Dieses
andere, diese andere Verwirklichung kann man meines Erachtens
nicht vernachlässigen, ohne dass man seine spirituelle Gesundheit
verliert, ohne in der Tiefe eine Enttäuschung zu spüren, die kein
materieller Erfolg ausgleichen kann.
Dies sind meine Gedanken. Sie
müssen damit nicht übereinstimmen. Aber ich lade Sie ein, darüber
nachzudenken und sich zu fragen, ob es wahr ist oder nicht. Alle
Lehren Buddhas sind keine Wahrheiten, die jemand aufgedrängt werden,
sondern Überlegungen, die man in Frage stellen sollte. Was ich
ihnen sage, sollten Sie im Licht der Lebenserfahrung überprüfen.
Tag für Tag, immer tiefer. Ist es wahr? Wie bewahrheitet es sich?
Was ist vielleicht unzutreffend? Wenn etwas nicht stimmt: Warum
trifft es nicht zu? Und miteinander darüber sprechen.
Gibt es ein Heilmittel gegen
Hass?
Es gibt zwei: Ein relatives Heilmittel
ist es, das Gegengift gegen Hass zu erzeugen, wohlwollende Gedanken
den anderen gegenüber. Überlegen, was die Ursachen des Hasses
sind, was Gegenstand des Hasses ist, den Vorgang des Hasses zu
zerlegen und ihn dadurch zu reduzieren. Wenn man z.B. jemand jemand
nicht leiden kann, weil er uns weh getan hat, kann man sich sagen,
dass diese Person es aus Unwissenheit getan hat, nicht, dass sie
es unabsichtlich getan hat, sondern aus spiritueller Unwissenheit,
weil sie nicht entwickelt genug ist, begeht sie Handlungen, die
Schaden anrichten. Das Gegenmittel gegen Hass ist also nicht nur
Wohlwollen, sondern auch Verzeihen, so wie es Christus lehrte:
Verzeiht ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. In dem Augenblick
verwandelt sich der Hass in Klage, in Mitgefühl. Wenn man den
Hass fallenlassen und in Mitgefühl umformen kann, fühlt man sich
sofort innerlich viel besser, sogar denen gegenüber, die man für
seine Feinde hält. Aber das bleibt relativ.
Das absolute Heilmittel gegn
Hass - wie gegen alle derartigen gewaltsamen Emotionen ist die
Leerheit des Egos wahrzunehmen, des Egos sowohl desjenigen, der
verletzt hat, wie auch desjenigen, der verletzt wurde: Es gibt
weder jemand, der verletzt, noch jemand, der verletzt wird. Dies
ist die Praxis der höchsten Loslösung. Es gibt keine Ursachen
zu hassen, es gibt keinen Gegenstand des Hasses, der Hass löst
sich auf. Aber hierbei handelt es sich um eine derart tiefe Dimension,
dass ich vorschlage, sich zunöchst einmal auf die erste, relative
Praxis zu konzentrieren, auf das Wohlwollen. Das ist bereits ein
großer Weg.
|