Ryaku
Fusatsu im ehemaligen KZ Weimar-Buchenwald
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Am Sonntagmorgen werden wir
hier im ehemaligen KZ Weimar-Buchenwald eine letzte Zeremonie
durchführen. Auf Japanisch wird sie ‚Ryaku Fusatsu
genannt. ‚Ryaku bedeutet ‚einfach
oder ‚abgekürzt– im Gegensatz zu ‚kompliziert
bzw. ‚ausführlich. ‚Fusatsu
bedeutet ‚schlechte Handlungen beenden. Das Ryaku
Fusatsu ist eine Zeremonie, in der wir geloben, dem schlechten
Handeln, vor allen Dingen natürlich unserem eigenen schlechten
Handeln, ein Ende zu setzen.
Die Wurzeln dieser Zeremonie
reichen sehr weit in die Geschichte zurück, in die Zeit
vor Buddha, als in der Vollmond- und in der Neumond-Nacht vedische
Opfer-Zeremonien abgehalten wurden. Zur Zeit Buddhas versammelte
sich die Mönchs- und die Nonnen-Sangha in diesen Nächten
und rezitierte die Ordensregeln, nachdem die Mönche bzw.
Nonnen zuvor Verstöße gegen die Regeln bekannt und
bereut hatten. Diese so genannte ‚Uposatha-Zeremonie
wird noch heute von Theravada-Mönchen und -Nonnen in der
Vollmond- und in der Neumond-Nacht durchgeführt.
Im Mahayana hat sich die Zeremonie
verändert und ist in Japan zum Ryaku Fusatsu geworden.
Dies beginnt mit der Rezitation
des Reue-Verses:
Alle schlechten Taten,
begangen seit sehr langer Zeit,
Frucht von Gier Hass und Verblendung,
alles schlechte Karma, das ohne Anfang ist,
bekenne und bereue ich jetzt.
Ich habe vorgestern im ersten
Teisho von ‚do gesprochen, der Einheit, der Nicht-Getrennheit.
Wenn wir diese Nicht-Getrennheit tief verstehen, können
wir alle schlechten Taten bekennen und bereuen. Wir, die konkreten
Personen, die wir hier dieses Sesshin praktizieren, haben diese
Taten nicht begangen, aber wir sind auch nicht getrennt von
den Tätern und ihren Taten – ebenso wenig wie von
den Opfern dieser Taten.
Dann rezitieren wir die Zufluchtnahme:
Wir nehmen Zuflucht zu den sechs Buddhas der vorhistorischen
Zeit, zum Buddha unserer Zeit, Buddha Shakyamuni, zum zukünftigen
Buddha, dem Buddha Maitreya. Wir nehmen Zuflucht zum Bodhisattva
Manjushri, dem Bodhisattva der Weisheit, dessen scharfes Schwert
alle Täuschungen durchtrennt, zum Bodhisattva Samantabhadra,
der das vollkommene Handeln repräsentiert, und zum Bodhisattva
Avalokiteshvara. Schließlich nehmen wir noch Zuflucht
zu allen Dharma-Vorfahren und Dharma-Vorfahrinnen.
Diese Zufluchtnahme ist keine
Abwendung von etwas, keine Flucht weg von etwas, vielmehr handelt
es sich um die Zuwendung zu etwas hin: So wenig wir von allen
schlechten Taten getrennt sind, so wenig sind wir von allem
Guten getrennt, das je existiert hat und das je existieren wird.
Wir sind nicht getrennt von den Buddhas, von den Bodhisattvas,
von unseren Dharma-Vorfahren und Dharma-Vorfahrinnen. Ihnen
wenden wir uns zu, indem wir die Zufluchtnahme sprechen.
Dann geloben wir im Shiguseiganmon,
den Vier großen Gelübden, die Praxis der
Buddhas, der Bodhisattvas, der Dharma-Vorfahren und Dharma-Vorfahrinnen
fortzusetzen.
- Wir wissen, dass es unzählige
Lebewesen gibt, die leiden. Nicht nur Menschen, sondern z.B.
auch Tiere. Aber die Größe der Aufgabe schreckt
uns nicht ab: Wir geloben, sie alle zu befreien.
- Wir sehen an uns selbst, wie schnell wir leidschaffenden
Täuschungen unterliegen. Wir wissen, dass die Täuschungen
unerschöpflich sind. Aber diese Einsicht führt uns
nicht zur Passivität. Wir geloben, alle Täuschungen
zu überwinden.
- Alles, was uns begegnet, jede Situation, jeder Augenblick
ermöglicht es uns, die Wirklichkeit so zu sehen, wie
sie ist – wenn wir uns nicht unseren Täuschungen
hingeben. Wir geloben, diese Wirklichkeit ganz zu durchdringen.
- Weil wir wissen, dass der Weg des Erwachsens, der Buddha-Weg,
unübertrefflich ist, geloben wir, ihn ganz zu verwirklichen.
Diese Gelübde werden konkretisiert
im Kyojukaimon, Meister Keizans Erläuterungen
zu den Geboten.
Anschließend nehmen wir
noch mal Zuflucht zu Buddha, zu seiner Lehre, dem Dharma, und
zur Sangha, der Gemeinschaft derer, die diese Lehre praktizieren.
Zum Abschluss widmen wir die
Zeremonie allen lebenden Wesen.
Dies wird die letzte Zeremonie
hier in Weimar-Buchenwald sein. – Es heißt, dass
Buddha nach seinem Erwachen erklärte, dass er das Erwachen
gemeinsam mit allen Wesen verwirklicht hat. Diese Aussage Buddhas
ist Ausdruck seines tiefen Verständnisses der Nicht-Getrenntheit.
Auch wir sind nicht getrennt von allen Wesen. Wir praktizieren
das Ryaku Fusatsu gemeinsam mit allen Wesen:
- Gemeinsam mit allen Wesen
bereuen wir das, was hier im KZ Weimar-Buchenwald und anderen
KZs geschehen ist – und was in anderen Lagern in anderen
oder ähnlichen Formen geschieht.
- Gemeinsam mit allen Wesen nehmen wir Zuflucht zu allen Buddhas,
zu allen Bodhisattvas, zu allen Dharmavorfahren und Dharmavorfahrinnen,
die vor uns das Erwachen gelebt haben.
- Gemeinsam mit allen Wesen geloben wir, in Zukunft den Buddha-Weg
zu verwirklichen.
Während sonst die Zeremonie
auf das Zazen folgt, folgt diesmal das Zazen auf die Zeremonie.
Zazen zu praktizieren ist das erste, was wir tun, nachdem wir
das Gelübde abgelegt haben, das Erwachen zu verwirklichen.
Es ist das letzte Zazen des Sesshins und der erste Schritt hinein
in unseren Alltag.
Es wäre schön, wenn
auch diejenigen, die sich nicht als Buddhistin und Buddhist
sehen, sich aktiv am Ryaku Fusatsu beteiligen würden.
Aber auch wenn jemand es nicht tut: Wir sind nicht von einander
getrennt, sind ‚do’. Die Nicht-Teilnahme
ist Ausdruck von ‚san, der Verschiedenheit, der
Vielfalt. Im abschließenden Zazen kommen ‚san
und ‚do zusammen, harmonisieren sich, werden
‚kai.
Es ist heute Freitag und wir
sind noch bis Sonntag hier in Weimar-Buchenwald. Von daher ist
es zu früh für ein Schlusswort. Aber ich hoffe, dass
wir dieses San-do-kai aus Buchenwald heraus mit in
unseren Alltag nehmen werden, dass wir es in unseren Alltag
integrieren und damit allen leidenden Wesen zu Hilfe kommen
werden.
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