Vor 40 Jahren kam Meister Deshimaru
nach Europa und begann hier die Praxis des Zen zu lehren. Seit
25 Jahren praktizieren wir, ohne dass er noch physisch unter uns
weilt. Ich selbst habe ihn nicht mehr persönlich kennen gelernt,
bin aber froh darüber, schon wenige Jahre nach seinem Tod
begonnen zu haben, Zazen zu praktizieren. Die Sangha, die Gemeinschaft
der Praktizierenden, war zu diesem Zeitpunkt sehr bemüht,
alles genau so zu machen, wie es zu Lebzeiten des Meisters gemacht
wurde. Seit einiger Zeit bin ich damit beschäftigt, seine
mündlichen Unterweisungen während Zazen, seine Kusen
zu übersetzen. Je länger ich praktiziere und je mehr
ich mich mit der Unterweisung Taisen Deshimarus befasse, umso
größer wird meine Achtung vor seiner Leistung.
Drei Aspekte dessen, was Meister
Deshimaru weitergab, möchte ich ansprechen, weil es mir wichtig
für unsere Praxis hier vor Ort scheint.
1.) Das Zazen, das Meister Deshimaru
unterwies und das wir hier in Weimar-Buchenwald praktizieren,
lasst sich mit den drei Begriffen ‚Shikantaza’, ‚Mushotoku’
und ‚Hishiryo’ beschreiben.
‚
Shikantaza’ bedeutet ‚nur
sitzen’, ‚ganz und gar sitzen’, ‚mit Haut
und Haaren sitzen’. Während wir in Zazen sitzen, kehren
wir immer wieder zur Konzentration auf die Körperhaltung
und zur Wahrnehmung der Atmung zurück. Wir nehmen Gedanken
und Gefühle wahr, die auftauchen, aber wir folgen ihnen nicht.
Auf diese Weise sind wir völlig eins mit jedem Augenblick,
völlig wach, völlig aufmerksam.
Indem wir so praktizieren, entsteht
keine Handlung, weder in Gedanken, noch in Worten oder Taten.
An einem Ort, an dem so viel Leid durch Gedanken, Worte und Taten
ausgelöst wurde, ist diese Praxis sehr hilfreich.
Wir praktizieren nicht, um irgendein
Ziel zu erreichen. Zazen zu praktizieren bedeutet, jedes Ziel
loszulassen. Dies ist die Bedeutung von ‚Mushotoku’.
Indem wir Zazen nicht als ein Mittel zu einem Zweck verwenden,
übersteigt es unsere persönlichen Wünsche und Vorstellungen
und wird allumfassend.
Selbstverständlich hat jede
und jeder, der zu diesem Sesshin gekommen ist, einen Grund, ein
Motiv für seine oder ihre Teilnahme.- Wir haben vorhin darüber
gesprochen. – Aber während Zazen lassen wir diesen
Grund, dieses Motiv los. Wir sitzen einfach nur. Erst durch dieses
Loslassen wird unser Zazen wirklich Zazen, wird es wirklich befreiend,
hilft es wirklich. – Versuchen wir, mit unserer Praxis ein
Ziel zu erreichen, bleiben wir in dem gefangen, was Chögyam
Trungpa Rinpoche, ein tibetischer Meister ‚spirituellen
Materialismus’ nannte.
‚Hishiryo’ heißt
‚jenseits von denken und nicht-denken’, ‚denken
aus der Tiefe des Nicht-Denkens heraus’. Indem wir nicht
bewusst Gedanken folgen, indem wir nicht nach-denken, schaffen
wir Raum in unserem Geist. In diesen Freiraum können Gedanken
aus unseren tiefsten Tiefen aufsteigen. Aber auch diesen Gedanken,
die sich irgendwo tief in uns gelöst haben, folgen wir nicht,
sondern wir kehren wieder zur Konzentration auf die Körperhaltung
und zur Wahrnehmung der Atmung zurück.
Gerade an einem Ort wie diesem
hier, der kein neutraler Ort ist, wie es ein Dojo sonst ist, ist
es während Zazen wichtig, sich nicht von seinen Gedanken
und Emotionen mitreißen zu lassen.
2.) Meister Deshimaru praktizierte
nach seiner Ankunft in Paris 1967 zunächst in Räumen
eines Makrobiotik-Geschäfts. Auch wenn er später in
Paris ein Dojo und in der Nähe von Blois den Zen-Tempel La
Gendronnière gründete, unterwies er doch immer, dass
sich die Zazen-Praxis nicht auf Tempel und Klöster beschränkt,
und leitete Sesshins in Turnhallen und anderen Veranstaltungsräumen.
Nicht die Heiligkeit des Ortes, an dem man praktiziert, macht
aus der Praxis eine Praxis des Weges, sondern die Ernsthaftigkeit,
mit der der Weg praktiziert wird, heiligt – Meister Deshimaru
verwandte oft den Begriff ‚heilig’ – den Ort,
macht aus ihm ein Dojo.
Indem wir nur sitzen, wenn wir
sitzen, kein Ziel verfolgen und aus der Tiefe des Nicht-denkens
heraus denken, wird dieses ehemalige KZ ein Dojo.
3.) Meister Deshimaru entschied
sich dafür, die Laien-Ordination, die traditionellerweise
‚'Jukai-Zeremonie' genannt wird, als Bodhisattva-Ordination
zu bezeichnen. Weist das Wort ‚'Jukai' auf das Empfangen
der zehn (ju) Gebote (kai) hin, macht der Begriff ‚'Bodhisattva'
die Dimension deutlich, um die es geht, wenn wir die Gebote, die
Konzentration und die Weisheit (kai, jo, e) praktizieren: Es handelt
sich um die Praxis von Bodhisattvas zum Wohle aller Wesen.
Als Bodhisattvas werden traditionellerweise
Wesen bezeichnet, die das Erwachen eines Buddhas erlangt haben
– oder sich doch zumindest darum bemühen, es zu erlangen
-, die aber darauf verzichten, in das Nirvana einzutreten. Stattdessen
kehren sie immer wieder zu den Lebewesen zurück, um ihnen
zu helfen, sich aus dem Kreislauf des Leidens, aus dem Samsara
zu befreien.
In den Sutren des Großen
Fahrzeugs, des Mahayana, wird von zahllosen Bodhisattvas gesprochen,
die in den verschiedensten Welten, nicht nur in der Welt der Menschen,
auf die Befreiung vom Leid hinarbeiten. Eine der bekanntesten
Bodhisattvas ist Avalokiteshvara, auf japanisch Kannon oder auch
Kanzeon. Sie wird oft mit 1000 Armen dargestellt. Jede Hand ist
mit einem Auge verstehen und hält ein Werkzeug. So kann sie
die Leiden der verschiedenen Lebewesen sehen und ihnen mit unterschiedlichen
Werkzeugen zur Hilfe kommen.
Es ist wichtig, Kannon nicht
als von uns getrennt anzusehen. Kannon ist nicht ein Wesen in
einer fernen Welt: Jede und jeder von uns hat die Fähigkeit,
mit den Werkzeugen, über die wir verfügen, anderen Wesen
zu helfen. Jede und jeder von uns kann als Kannon handeln.
Von einigen Menschen, die heute
hier in der Gedenkstätte Buchenwald arbeiten, und von Menschen,
die in anderen Gedenkstätten arbeiten, habe ich gehört,
wie stark nach wie vor der negative Einfluss der Ereignisse ist,
die vor Jahrzehnten an diesen Orten stattgefunden haben. Die Arbeit
in den KZ- Gedenkstätten kann z.B. zu Krankheit und Alkoholmissbrauch
führen.
Hier in Weimar-Buchenwald den
Geboten zu folgen, Zazen zu praktizieren und Weisheit zu entwickeln,
ist Ausdruck der Bemühung, unsere Bodhisattva-Gelübde
zu erfüllen. In unserer Praxis hier und jetzt sind wir nicht
von diesem Ort getrennt, nicht von den Menschen, die hier arbeiten.
Unsere Praxis hier und jetzt verändert Buchenwald und hilft
den Menschen, die hier arbeiten, gerade dann und gerade dadurch,
dass wir ‚Shikantaza, ‚Mushotoku und ‚Hishiryo
praktizieren.
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