Wir sind hier auf dem Gelände
des ehemaligen KZ Weimar-Buchenwald zu einem Sesshin zusammengekommen.
Sesshin bedeutet ‚'den Geist berühren'.
Welchen Geist wollen wir hier
an diesem Ort berühren, an dem über 250.000 Menschen
oft unvorstellbare Qualen gelitten haben, von denen mehr als
50.000 starben?
Wir wollen den ‚Geist
'des großen Weisen aus Indien' berühren, wie er im
Sandokai, einem frühen Zen-Text von Meister Sekito aus
dem China des 8. Jhdts genannt wird. Der Titel des Textes, ‚Sandokai,
kann uns helfen zu verstehen, worum es geht, wenn wir hier in
Buchenwald gemeinsam Zazen praktizieren:
- ‚san bedeutet
‚Vielfalt, ‚Verschiedenheit,
- do bedeutet ‚Einheit und
- ‚kai schließlich ‚Harmonie.
Hier in Buchenwald ist –
wie in allen Konzentrations- und Vernichtungslagern –
die Verschiedenheit der Menschen, die Verschiedenheit ihrer
politischen Einstellung, die Verschiedenheit ihrer religiösen
Überzeugung, die Verschiedenheit ihrer Rassenzugehörigkeit,
die Verschiedenheit ihrer sexuellen Orientierung zum Anlass
genommen worden, sie zu quälen und zu töten.
Das Nicht-Akzeptieren von ‚san,
der Vielfalt, der Verschiedenheit, ist nichts, das auf Deutschland,
den Faschismus und die Konzentrationslager beschränkt ist.
Es hat es zuvor gegeben und danach. Auch heute noch ist '‚anders
sein' Anlass dafür, Menschen zu diskriminieren, zu verfolgen,
zu ermorden. Während des Faschismus in Deutschland wurde
die Verschiedenheit jedoch in einer Art und Weise bekämpft,
die jenseits dessen lag, was Menschen bis dahin für möglich
gehalten haben.
Buchenwald fordert uns auf,
Verschiedenheit als eine Grundbedingung menschlicher Existenz
wertzuschätzen und sie als solche zu leben.
Der Geist, mit dem wir hier
in Berührung kommen wollen, ist der Geist, der die Verschiedenheit
annimmt.
Hier in Buchenwald gab es Wärter
und Häftlinge, Täter und Opfer, Mörder und Ermordete,
wurde unmenschliches und menschliches Verhalten deutlich. Aber
auch derjenige, der sich völlig unmenschlich verhielt,
war ein Mensch. Opfer und Täter waren Menschen. Es ist
zu einfach, die Täter als Unmenschen, als Bestien abzustempeln.
Bei allen tatsächlichen Unterschieden müssen wir auch
die Einheit, das Gemeinsame sehen.
Das Gemeinsame, do, ist, dass wir alle Menschen sind,
Lebewesen auf dem Planet Erde, und dass wir alle das sind, was
wir im Buddhismus ‚,Buddha-Natur’ nennen: Wir sind
alle ausgestattet mit dem Potential zu erwachen.
Der Geist, mit dem wir hier
in Berührung kommen wollen, ist der Geist, der die Einheit
in allen Unterschieden und trotz aller Unterschiede sieht.
In dem, was wir als Einheit
wahrnehmen, müssen wir aber auch die Unterschiede sehen:
Im Sandokai heißt es: „Licht ist in der
Dunkelheit. Dunkelheit ist im Licht.“ Von manchen der
Täter, der SS-Leute, wird berichtet, dass sie fürsorgliche
Familienväter waren. Andererseits gab es Häftlinge,
die wissentlich das Leiden ihrer Mithäftlinge vergrößerten.
Buchenwald zeigt uns die ganze
Bandbreite menschlichen Verhaltens, zeigt uns, wozu Menschen
fähig sind, zeigt uns, wozu wir fähig sind.
Der Geist des großen
Weisen aus Indien, den wir hier berühren wollen, leugnet
weder die Unterschiede noch das grundlegend Gemeinsame, vielmehr
sieht er Unterschiede und Gemeinsamkeiten und umfasst sie beide.
Der Geist des großen Weisen aus Indien wählt nicht
aus, was er wahrnehmen möchte und was nicht. Er ist offen,
das zu sehen, was ist.
Der Geist, mit dem wir hier
in Berührung kommen wollen, ist ‚kai, der
Geist, der die Einheit in den Unterschieden und die Unterschiede
in der Einheit sieht.
Aus diesem Geist heraus werden
wir in den nächsten Tagen leben und handeln:
- Wir werden an verschiedenen
Stellen des Lagers Zazen praktizieren und all die Gedanken,
Empfindungen und Gefühle wahrnehmen, die in uns aufsteigen,
ohne uns an sie zu klammern und ohne sie abzuwehren.
- Wir werden Zeremonien durchführen und buddhistische Texte
rezitieren. Diese werden wir Opfern UND Tätern - und darüber
hinaus allen Lebewesen - widmen: Unser Wunsch, dass alle Wesen
die Befreiung erlangen mögen, wird durch nichts begrenzt.
- Wir werden in Buchenwald arbeiten. Unsere Arbeit verbindet
uns mit diesem Ort, mit all den Menschen, die vor uns hier gearbeitet
haben, und mit all denen, die nach uns hier arbeiten werden.
Unsere Arbeit trägt dazu bei, diesen Ort zu erhalten UND
ihn zu transformieren.
Der Geist des großen
Weisen aus Indien manifestiert sich in ‚san,
do, ‚kai.
Eine andere Möglichkeit,
diese drei Begriffe zu beschreiben besteht darin, ihre Verbindung
mit den Drei Kostbarkeiten darzustellen:
- ‚san entspricht
dem Dharma, das über unzählig viele verschiedene Pforten
verfügt. (Das rezitieren wir nach jedem Zazen: ‚Homon
muryo seigando – Unzählig sind die Pforten des
Dharmas, ich gelobe, sie alle zu durchdringen.)
- do entspricht Buddha, dem Erwachten, der die Nicht-Getrenntheit
von allem, was existiert, wahrnimmt.
- ‚kai entspricht der dritten Kostbarkeit, der
Sangha, der harmonischen Gemeinschaft.
Lasst uns in den Tagen, die
wir hier in Weimar-Buchenwald gemeinsam das Sesshin leben, das
‚san, do, ‚kai verwirklichen,