Nach dem Zazen am Morgen und
am Abend rezitieren wir verschiedene buddhistische Texte. Die
meisten von ihnen stehen in Bezug zu Avalokiteshvara, dem Bodhisattva
des Großen Mitgefühls – oder wie ich es lieber
ausdrücke: dem Bodhisattva der Großen Anteilnahme.
Gestern Abend haben wir das Kannon
Gyo rezitiert, heute morgen das Hannya Shingyo und
das Daihishin Dharani, nachher werden wir das Enmei
Jukku Kannon Gyo rezitieren. Alle diese Texte beziehen sich
auf Avalokiteshvara. - Die meisten dieser Texte werden wir auch
in den kommenden Tagen wieder rezitieren.
In der Geschichte des Buddhismus
und in den verschiedenen vom Buddhismus geprägten Ländern
hat Avalokiteshvara hat verschiedene Formen und Namen angenommen.
Mal ist er männlich, mal weiblich, mal androgyn. Mal hat
er 11 Köpfe, mal 1.000 Arme und Hände.
Die Geschichte des Avalokiteshvara
mit den 11 Köpfen passt besonders gut hier her nach Weimar-Buchenwald:
Avalokiteshvara hatte ursprünglich nur einen Kopf. Als sie
das Leiden der Welt sah, legte sie das Gelübde ab, alle lebenden
Wesen aus ihrem Leid zu befreien und ins Reine Land zu bringen.
Aber während sie sich mit den lebenden Wesen auf dem Weg
ins Reine Land war, drehte sie sich um, schaute zurück und
sah, dass sich alle sechs Bereiche wieder mit neuen Lebewesen
gefüllt hatten. Als sie deren Leiden sah, zersprang ihr vor
Schmerz der Kopf. Buddha Amitabha, der Buddha des Reinen Lands,
setzte aus den Teilen des alten Kopfes einen neuen zusammen, der
aus 11 Köpfen bestand. Mit diesen elf Köpfen war Avalokiteshvara
in der Lage, den Anblick des Leids der Lebewesen zu ertragen und
weiterhin an der Erfüllung ihres Gelübdes zu arbeiten.
Viele Menschen, mit denen ich
über das Sesshin hier in Buchenwald gesprochen habe, haben
mir gesagt, sie hätten zu große Angst hierher zu kommen,
sie könnten das Leid, das an diesem Ort geschehen sei, nicht
ertragen. Sie haben Angst davor, dass ihnen das gleiche passiert
wie Avalokiteshvara. Und vielleicht mag auch dem einen oder der
anderen von uns hier in Anbetracht dessen, was wir hier erfahren,
der Kopf zerspringen. Aber, wenn uns der Kopf zerspringt, müssen
auch wir ihn wieder zusammen setzen und einen neuen Kopf formen:
einen Kopf, der mehr Augen und Ohren hat, um die Schreie der Welt
zu hören – und zu handeln!
Das 25. Kapitel des Lotus-Sutras
spricht von Avalokiteshvara, Kannon auf Japanisch. Das Kannon
Gyo ist ein Auszug aus diesem Kapitel. In ihm heißt
es:
Wenn man, an Händen
und Füßen gefesselt und den Hals in einem Holzjoch,
ins Gefängnis geworfen wird: Wenn man sich an die Kraft
Kannons erinnert, wird man frei wie Luft werden.
Stimmt diese Aussage in Anbetracht
dessen, was hier im KZ Weimar-Buchenwald geschehen ist, oder handelt
es sich um Hoffnung gebende, aber letztlich leere Worte? Wenn
die die Aussagen des Lotus-Sutras nicht für eine Situation
wie die hier im KZ stimmen, wann sollten sie dann stimmen?
Ich weiß nicht, ob irgendjemand,
der hier im KZ gelebt hat, da Lotus-Sutra kannte und ob er Kannon
angerufen hat. Ich kann die eben aufgeworfenen Fragen nur beantworten,
indem ich nach Analogien schaue. Und die gibt es: Das Lotus-Sutra
fordert uns auf, uns voller Vertrauen an Kannon zu wenden. Wenn
wir dies tun, kommt sie uns zur Hilfe.
Hier im Lager hat es einen evangelischen
Pfarrer gegeben, Paul Schneider, den ‚,Prediger von Buchenwald’.
Selbst unter größten Schmerzen, selbst in der Folter
hat er das Vertrauen zu Gott nicht verloren, hat zu Gott gebetet,
hat vom Fenster seiner Zelle aus seinen Mithäftlingen das
Wort Gottes gepredigt. Aus meiner Sicht war er frei, inmitten
der Unfreiheit, die ihn fesselte und unter der unendlich litt.
Es war diese aus dem gläubigen Vertrauen entstandene Freiheit,
die die Nazis hier in Buchenwald bis zur Weißglut reizte,
sodass sie Paul Schneider folterten, bis er starb.
Ich möchte Paul Schneider
nicht für den Buddhismus vereinnahmen. Er war ein evangelischer
Pfarrer. Aber die Kraft Kannons, die Kraft des Mitgefühls
und der Anteilnahme, manifestieren nicht nur Buddhistinnen oder
Buddhisten. Auch Christen und Christinnen bringen diese Kraft
zum Ausdruck. - Mutter Teresa ist vielleicht das bekannteste Beispiel
einer modernen Kannon.
Paul Schneider hat gehandelt,
wie Kannon handelt: Selbst wenn er ausgepeitscht und zusammengeschlagen
wurde, hat er seine Kraft zusammen genommen und im Vertrauen auf
Gott, auf Amitabha, gebetet. Dieses Vertrauen und das Beten selbst
haben ihm eine Freiheit gegeben, in der er trotz seines eigenen
Leids eine Stütze für seine Mithäftlinge war. Paul
Schneider hat hier in Buchenwald Kannon verkörpert.
Eine andere Darstellung Avalokiteshvaras
zeigt ihn mit tausend Armen. Jede seiner tausend Hände hat
ein Auge und hält irgendein Instrument, irgendein Werkzeug.
Mit den tausend Augen sieht er die Leiden der Welt und sieht,
was erforderlich ist, um ihnen ein Ende zu bereiten. Aus den tausend
Werkzeugen wählt er dann das aus, mit dessen Hilfe er das
Leid beenden kann.
Möge während dieses
Sesshins unserer Vertrauen in die Kraft Avalokiteshvaras wachsen,
mögen während dieses Sesshins die Zahl unserer Augen,
Ohren und Hände zunehmen,
möge es uns gelingen, das grenzenlose Gelübde Avalokiteshvaras
zu erfüllen.
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