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TRADITION

 

 

Ich habe manchmal Gespräche mit anderen Leuten, in denen es um den Weg geht oder darum, wie man den Weg geht oder sein Leben gestaltet. Wenn ich dann von meiner Zen-Praxis erzähle, kommt oft das Argument: „Ich brauche nicht so eine Tradition. Jeder muss das selbst herausfinden. Ich brauche keinen Meister.“ Selbst wenn ich mich mit anderen Leuten unterhalte, die Zazen praktizieren, sagen die: „Man muß ja nicht wie alle in Schwarz herumlaufen. Das ist nicht nötig.“ Ich versuche das zu verstehen, aber ich merke an meiner Reaktion, daß ich unzufrieden mit mir selbst bin. Wie kann ich damit umgehen? Wie muß ich an mir arbeiten?

Ich denke, man muß sie bezüglich ihrer Illusion aufklären. Ich glaube, daß sie nicht verstehen, was die Essenz des Zen ist. Die Essenz des Zen ist nicht, sich schwarz anzuziehen. Wenn sie andere Farben tragen, andere Kleidung anziehen wollen, ist das nicht schlimm. Das ist ihnen freigestellt.

Einer Tradition zu folgen, einem Meister zu folgen bedeutet in Wirklichkeit, einer Methode zu folgen, um uns hier und jetzt zu verstehen. Wir studieren nicht die Tradition. Wir studieren uns selbst hier und jetzt. Das sind keine alten Geschichten der Vergangenheit. Selbst wenn wir die Geschichten wie alte Geschichten studieren, z.B. das Denkoroku, ist das Wichtige: wir - jetzt. Die Geschichten von den alten Meistern, die Unterweisung der Sutren, des Dharma, das ist unsere Tradition, ja. Aber aus der Sicht des Zen hat das nur eine einzige Bedeutung: hier und jetzt zu erwachen. Dieses Erwachen ist jenseits der Tradition. Uns selbst zu verstehen, uns selbst zu befreien von unseren Leiden - jetzt.

Ich glaube, es gibt keinen Widerspruch, zwischen dem, was deine Freunde sagen, und deiner eigenen Praxis. Man muß ihnen erklären, was die wahre Praxis ist, das wahre Zen. Es geht nicht darum sich an eine Tradition und an alte Geschichten zu klammern oder an irgendwelche Regeln.

Sich einfach hinsetzten, sich selbst beobachten, sich selbst verstehen und sich selbst befreien. Selbst einem Meister zu folgen ist nur eine Hilfe dahin. Ein Meister ist nur da, um in dieser Richtung zu helfen. Aber er kann nichts an Stelle des anderen tun. Jeder muss sein eigener Meister werden: selbst realisieren. Jeder muß den Weg gehen. Selbst wenn es ein alter Weg ist, der mehr als neunzig Generationen gegangen wurde, praktiziert man genau hier und jetzt. Wenn man Kinhin macht, wenn man Zazen macht, imitieret man keine alte Tradition. Man ist hier mit seinem Körper, seiner Atmung - genau hier und jetzt.

Natürlich gibt es eine bestimmte Form, und die ist traditionell. Aber diese Form ist nur eine Unterstützung. Zen ist nicht begrenzt auf die Praxis im Dojo. Zen ist das ganze Leben. In allen Augenblicken des Alltags kann man sich selbst beobachten, konzentriert sein, achtsam sein, gleichzeitig offen für die anderen. Das ist in allen Momenten des Lebens möglich, in allen Umständen. Die Bedingungen in einem Dojo sind ein etwas traditioneller Rahmen, der die Praxis und Konzentration fördert. Es ist einfacher sich in einem Dojo zu konzentrieren, wo es still ist und wo es Regeln gibt, als in der Aufgeregtheit des täglichen Lebens. Wenn der Weg auf das begrenzt wäre, was im Dojo geschieht, wäre das sehr schade. Dann wäre er nur eine kleine Sache. Das Dojo ist ein Ort, wo man sich in gewisser Weise vorbereitet und etwas erfährt, was man dann überall aktualisiert. Das Ideal unserer Praxis ist, daß das Dojo überall ist, daß jeder Ort zum Ort der Praxis des Weges wird. - So muß man es erklären.

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Das Reich der Stille ist nicht gebunden an irgend eine Tradition. Gibt es einen Punkt, an dem man Tradition loslassen muß?

Das hängt davon ab, worin die Tradition besteht. In unserer Zen-Tradition z.B. gibt es vieles, aber das Wesentliche ist die Praxis. Es gibt die buddhistische Philosophie, es gibt unsere Rituale, unsere Geschichte, die Meister der Weitergabe, das Vertrauen in die Weitergabe. All das ist Teil der Tradition. Aber das Herz unserer Tradition ist die reine Erfahrung von Zazen hier und jetzt.

Muß man das aufgeben? - In gewisser Weise schon. Aber das heißt nicht, daß man die Zazenpraxis aufgeben muß, sondern das Bewußtsein, daß man dabei ist, Zazen zu machen. Jeden Gedanken aufgeben: ‚Jetzt mache ich Zazen.’ ‚Zazen ist das Satori.’ Es gibt kein Bewußtsein mehr, während man Zazen macht. Das ist der Punkt, an dem man die Tradition aufgibt.

Die Tradition ist sehr weit, aber am Ende führt sie zur Quelle, und das ist Zazen. Wenn man das praktiziert und eins wird mit Zazen, gibt es kein Zazen mehr. Es gibt kein Bewußtsein, es gibt keine Trennung mehr von Zazen. Es gibt kein Bewußtsein mehr: ‚Ich mache Zazen.’ Es ist eine Praxis, die man nicht mehr benennen kann. Es gibt kein Zazen mehr. Das ist der Punkt.

Diese Frage ist sehr wichtig. Natürlich entwickeln alle Traditionen einen Glauben, ein Vertrauen in das, was unterwiesen wird. Wir sagen z.B.: ‚Man muß Vertrauen in die drei Kostbarkeiten haben.’ Während der Ordination legt man das Gelübde ab, den drei Kostbarkeiten - Buddha, Dharma, Sangha - zu folgen. Das sind die höchsten Werte unserer Tradition. Aber wenn man sich daran klammert, kann es Frömmelei, Bigotterie, werden.

Sich nicht an den höchsten Schatz einer Tradition zu klammern, heißt ihn zu realisieren. Das bedeutet nicht, ihn aufzugeben oder zu verwerfen, sondern ihn wirklich zu realisieren. Dann kann man darüber hinaus gehen, dann denkt man nicht mehr daran. Man denkt nicht mehr an Buddha, man ist Buddha. Dann gibt es keinen Buddha mehr. Es ist nicht nötig, ans Dharma, an die Unterweisung, zu denken. Wenn die Unterweisung vollständig verwirklicht ist, gibt es keine Unterweisung mehr. Für die Sangha gilt dasselbe. Jeder von uns ist Teil der Sangha. Aber wir dürfen uns nicht an eine bestimmte Gemeinschaft klammern und diese Sangha nennen. Man darf nicht sagen: ‚Hier, das ist die Sangha.’ Denn das schafft Trennungen. Man muß nur ein wahrer Mönch, eine wahre Nonne werden, der in sich selbst den Geist der Sangha vollkommen aktualisiert. In diesem Fall gibt es keine begrenzte Gemeinschaft mehr. Man kann verstehen, daß alle Wesen zur Sangha werden.

Das heißt, egal welcher Tradition man folgt, man muß bis ans Ende, bis in die Tiefe der Tradition gehen, um ihre Essenz zu realisieren. Am Ende der Tradition gibt es keine Tradition mehr. Dann gibt es nichts mehr, nur die Realisation.

Das gilt auch für das Christentum: Solange es hier Gläubige und Gott dort gibt, kann man an Gott glauben. Aber es gibt immer die Trennung, es gibt immer das Leiden, das Unglück: Gott ist weit weg. Aber wenn man sein Ego vollständig aufgibt und auch jeden Wunsch, jede Absicht, sich mit Gott zu vereinigen, erscheint der Geist ohne Trennung, dann gibt es keinen Gedanken mehr an Gott und an mich, dann gibt es keine Trennung mehr. Ich glaube, dass diese Kommunion der wesentliche Punkt der christlichen Tradition ist.

 


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