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MITGEFÜHL
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Oft sagst du, dass Mitgefühl Weisheit benötigt. Ich habe den Eindruck, dass die Unterweisung der Weisheit in letzter Zeit etwas unterkühlt ist und mehr Mitgefühl benötigt. Natürlich! Beides ist nötig. Weisheit ohne Mitgefühl geht nicht, sie ist unterkühlt, wie du sagst. Aber Mitgefühl ohne Weisheit geht auch nicht. Mitgefühl ist nicht nur ein Gefühl von Mitleid für den anderen. Im Buddhismus bedeutet Mitgefühl, etwas zu tun, was dem anderen hilft, etwas beizutragen, das seine Leiden lindert, oder noch besser, ihm die Möglichkeit gibt, sich selber von seinen Leiden lösen zu können. Man kann Menschen helfen, indem man ihnen zum Beispiel Geld gibt, aber man kann ihnen auch helfen, Arbeit zu finden oder einen Beruf zu lernen. Die zweite Lösung ist besser, als einfach Geld zu geben. Wenn jemand leidet, kann man die Person trösten, in den Arm nehmen und Sympathie ausdrücken. Das tut ihr gut. Aber danach kann man mit ihr reden und versuchen, die Ursache ihrer Leiden zu verstehen, und ihr vielleicht helfen, einen Weg zu finden, dass ihr Leiden verringert wird. So kann sie einen Ausweg finden, der ihr hilft, über diese Leiden hinauszugehen und die Lebensfreude wiederzufinden. Dazu braucht man Weisheit. Im Buddhismus trennt man nie Weisheit von Mitgefühl.
Insbesondere der Bodhisattva wird von diesen beiden Tugenden, Weisheit
und Mitgefühl, angetrieben. Wenn der Bodhisattva nur an der Leerheit
festhält, wird er dem Leiden gegenüber unsensibel. Er sagt dann:
„Da ist doch nichts!“ Aber die Menschen, die leiden, können
nicht sagen: „Da ist nichts.“ Sie verspüren Leiden. Man
muss das Phänomen Leiden und die letztendliche Wirklichkeit der Leerheit
verstehen, nur so kann man wirklich helfen. So kann man auch mit dem Helfen
weitermachen. Die ständige Konfrontation mit dem Leiden anderer ist
am Ende ermüdend. Wenn man nicht eine gewisse Weisheit entwickelt,
um sich von diesen Leiden zu lösen, kann man mit dem Helfen nicht
weitermachen, weil man zu sehr von dem universellen Leiden niederdrückt
wird. Dann hat man keine Mittel mehr, um weiterhin helfen zu können.
--- Welche Wege gibt es, um Mitgefühl zu üben und das eigene mitfühlende Herz zu schulen? Den Schutz des Egos vermindern, die Anhaftung an das Ego vermindern, die Ichbezogenheit vermindern. So als würde man seine Haut pflegen, um sie weicher und feiner zu machen. Manche Leute haben eine harte Haut wie einen Panzer, die sie weniger sensibel macht. Wenn die Haut weicher wird, ist sie empfänglicher, sensibler. Aber das ist nur ein Bild. Das Ego hat viele Systeme, um sich zu verteidigen. Diese Verteidigungs-systeme muss man verstehen und relativieren. Zum Beispiel ist der Intellektualismus ein Verteidi-gungsmechanismus. Sobald man etwas wahrnimmt, fängt man an, es zu interpretieren und die Situation zu rationalisieren, was zur Folge hat, dass man von der Situation nicht mehr berührt wird. Anstatt von der Armut eines Bettlers berührt zu sein und etwas zu geben, fängt man an nachzu-denken. Man sagt sich: „Der ist arm, weil er ein Faulpelz ist. Er arbeitet nicht. Das liegt an der Wirtschaftskrise. Man müsste endlich die Krise lösen.“ Man macht sich allerlei Gedanken und Hirngespinste, die einen hindern, von der gegenwärtigen Wirklichkeit berührt zu sein, vom Leiden des anderen, der arm ist. Das Ego hat verschiedene Mechanismen, um sich zu verteidigen. Man muss sie beobachten und versuchen, sie zu reduzieren. Ein wichtiger Punkt ist die Vorstellung, dass man im Endeffekt etwas verliert, wenn man Zeit, Geld oder Energie gibt, die Angst, dass man danach weniger hat. Das hindert einen daran zu geben, obwohl geben eigentlich auch empfangen heißt. Ich finde deine Frage sehr wichtig. In jeder Situation
sollte man sich fragen: Wie kommt es, dass ich gerade nicht mehr Mitgefühl
empfinden kann? Was geschieht da? Man sollte seinen Geist, sein Herz beobachten
und sehen, wie sie in diesem Augenblick funktionieren. Dies kann eine
Gelegen-heit sein, um zu erwachen. Für mich ist das größte
Merkmal einer spirituellen Entwicklung die Entwicklung des Mitgefühls.
Wenn ich spüre, dass mein Mitgefühl ungenügend ist, frage
ich mich: Was passiert gerade? Warum? Dies hilft dabei, die Bonnos, die
Illusionen aufzudecken. Und vielleicht entsteht dabei eine Gelegenheit,
um darüber hinauszugehen. --- Ich praktiziere seit neun Monaten Zazen. Zuvor habe ich ein Jahr lang tibetischen Buddhismus praktiziert. Ich habe den Eindruck, dass in dem, was in den Kusen gesagt wird, und in dem, was ich über das Zen lese, sehr wenig über das Mitgefühl und die Öffnung für andere gesprochen wird. Es gibt viele Kommentare und viele Empfehlungen für die Öffnung einem selbst gegenüber. Ich habe den Eindruck, dass Zazen Härte erzeugen kann. Selbst, wenn man das eigene Ego vergessen soll, so bezieht sich das doch immer auf einen selbst. Es ist keine Öffnung den anderen gegenüber. Meine Frage also: Warum so wenige Kommentare diesbezüglich? - Ich spreche lieber von Öffnung anderen gegenüber als von Mitgefühl, denn Mitgefühl scheint mir ein konvertierter Begriff zu sein. Wenn du von der Unterweisung sprichst, sich auf das Selbst zu konzentrieren, so ist das Selbst, auf das man sich konzentrieren soll, kein auf uns selbst beschränktes Selbst. 'Selbst’ umfasst auch die anderen. Konzentriere dich selbst auf Zazen und wenn du das tief tust, kannst du nichts anderes machen als festzustellen, dass du selbst unbegrenzt bist und ohne Substanz, ohne irgendetwas, was man erfassen kann. Denn 'Selbst’ existiert nur in Beziehung. Das ist die Wirklichkeit. Das Hannya Shingyo ist die Unterweisung Avalokiteshvaras, des Bodhisattvas des Mitgefühls, Shariputra gegenüber, der ein bisschen ein Symbol für alle diejenigen ist, die ein intellektuelles Verständnis der Unterweisung Buddhas haben. Wir rezitieren es morgens und abends, weil die Essenz unserer Praxis darin besteht, Weisheit und Mitgefühl nicht zu trennen. Wenn man Weisheit und Mitgefühl trennt, wird Weisheit zu etwas, das man nicht verstanden hat. Aber in der Unterweisung und in der Praxis des Zen benutzt man nicht die Unterweisung der Fünf Unbegrenzten wie das Theravada es tut und die Tibeter es aufgegriffen haben, d.h. eine Unterweisung, die darin besteht sich zu bemühen, Wohlwollen und Mitgefühl für alle Wesen, denen wir begegnen, zu manifestieren mit einem Stufenpfad von einzelnen Schritten, indem man zuerst Mitgefühl mit sich selbst hat und dann mit den Wesen, die uns nahe stehen, die wir mögen z. B. unserer Familie. - Wenn man seine Eltern, seine Frau seine Kinder nicht lieben kann, ist es nicht möglich, eine universelle Liebe für die ganze Welt zu empfinden. - In dieser Unterweisung ist es dann so, dass die nächste Stufe die ist, sein Mitgefühl auszudehnen auf die Personen, gegenüber denen man indifferent ist, z.B. Personen denen man auf der Strasse begegnet, Personen im Supermarkt. Diese Unterweisung ist sehr konkret, wenn man z.B. im Supermarkt in der Schlange steht und jemand unterhält sich mit der Kassiererin und man wird ungeduldig, so ist die Gelegenheit, Mitgefühl zu praktizieren, dass man zu verstehen versucht, dass der Job an der Kasse nicht einfach ist. Das ist also der stufenweise Weg das Mitgefühl auszudehnen. In der Unterweisung des Zen unterweist man nicht so, denn man glaubt, dass man Gefahr läuft, dass das etwas Voluntaristisches wird, und dass es noch Teil einer Anhaftung ist, dass man sich vorstellt, man möchte so oder so sein, man möchte voller Mitgefühl sein. Das Leben wird dann etwas, was einen Anschein von etwas erweckt, was in Wirklichkeit nicht vorhanden ist. Das ist auch noch etwas Begrenztes. Die Praxis von Zen ist es, wirklich alle Hindernisse fallen zu lassen, alle unseren geistigen Erzeugnisse, die ein Hindernis dafür sind, dass Mitgefühl etwas Natürliches ist, das von selbst entsteht, und nicht etwas, das als Übung praktiziert werden muss. Das ist der Grund, warum man davon nicht so viel spricht und nicht den Leuten am Empfang z.B. sagt: „Habt Mitgefühl mit den Leuten, die kommen!“ und im Samu: „Bitte helft den Anfängern!“ D.h. man gibt keine diesbezüglichen Anweisungen, sodass sich die Leute sagen: „Oh, jetzt muss ich also mitfühlend sein.“ Vielleicht fehlt das, denn es ist nicht klar, dass Mitgefühl natürlich wird. Aber im Zen hat man das Vertrauen, dass unsere wahre Natur in der Tiefe eine Natur ist, in der es keine Trennung zwischen den Wesen gibt. Das ist es, was man berühren muss. Ausgehend von dieser Wirklichkeit wird alles natürlich und einfach, leicht, d.h. man kommt zu dem Punkt, wo man nichts Schlechtes mehr machen kann, andere nicht verletzen kann, anderen nicht wehtun kann. Denn du mir gegenüber und ich, wir sind jetzt nicht getrennt. Wenn man das wirklich ganz vertraut spürt, sind Gebote nicht notwendig, kein 'Liebet einander!’, 'Habt Mitgefühl miteinander!’, 'Übt Wohlwollen!’ Das Problem ist, dass man in der Pädagogik etwas zu idealistisch ist und uns geeignete Mittel fehlen. Ganz einfache Übungen fehlen im Alltag. Die Unterweisung des Zen ist die Unterweisung des Tiefsten, des Absoluten. Aber vielleicht bedürfen wir auch vermittelnder Praxis. Es ist gut, dass alle Wesen und Phänomene, denen wir begegnen, Koans sind, d.h. eine Erinnerung an eine Wirklichkeit, so wie sie ist, und dass wir uns damit in Einklang bringen. So sind sie eine Gelegenheit, dieses Leben ohne Trennung zu leben. Meistens vergessen wir das. In Zazen berühren wir das ganz intim, haben eine Intuition davon und anschließend vergessen wir es. Du kannst dich bemühen, deine eigenen geeigneten Mittel zu finden, um dich im Alltag daran zu erinnern. Ich bemühe mich zumindest, wenn ich den Eindruck habe, dass mir Geduld oder Mitgefühl fehlt. „Was fehlt?“, „Was hindert mich daran?“, „Was ist das Bonno, das bewirkt, dass das, was eigentlich natürlich scheint, nicht natürlich ist?“ In diesem Augenblick sind Hindernisse Möglichkeiten zu erwachen und sich klar darüber zu werden, so zu funktionieren, wie wir natürlicherweise funktionieren sollten. -------- Ich versuche, Mitgefühl mit meinen Mitmenschen zu haben. Aber manchmal passiert mir, dass sich die Gefühle meiner Mitmenschen auf mich übertragen und dann leide ich darunter. Ja, das passiert. Dann leide ich auch. Ich habe das Gefühl, dass das kein guter Zustand ist. Das stimmt. Was kann ich dagegen tun, ohne mein Mitgefühl für den anderen Menschen zu verlieren. Das ist ein sehr heikles Problem. Manchmal passiert es
sogar, dass man aus Empathie die gleichen physischen Schmerzen empfindet
wie jemand anderes. Das ist mir auch schon passiert: Jemand hat an einer
bestimmten Stelle Schmerzen gehabt und fünf Minuten später hatte
ich an der gleichen Stelle Schmerzen, so als wäre es ansteckend gewesen.
Das hilft dem anderen natürlich in keiner Weise. Es ist ein nutzloses
Leiden. Ich sage in Zazen oft: „Dieser Gedanke, diese Empfindung, dieses Leiden, gehört zu mir, aber ich bin nicht dieser Gedanke, diese Empfindung, dieses Leiden.“ Das bedeutet auf der einen Seite, in Kontakt zu sein, sich aber andererseits nicht damit zu identifizieren. Das kann man lernen, indem man versteht, was uns während Zazen geschieht. Das heißt aufnahmebereit für Empfindungen, Wahrnehmungen und Gedanken zu sein, sich nicht zu bemühen, sie zu unterdrücken, sondern sie wirklich kommen zu lassen, aber sich zur gleichen Zeit nicht mit ihnen zu identifizieren. Anschließend kann man das auch im Kontakt mit anderen praktizieren. Das bedeutet so sehr Sympathie und Mitgefühl zu haben, dass man wirklich das spürt, was sie spüren, aber zugleich in seiner eigenen Identität verwurzelt zu sein: Der andere ist der andere und ich bin ich. Ich kann jemanden begleiten, der im Sterben liegt, aber er stirbt, nicht ich. Wir sterben nicht zusammen. Der andere liegt im Sterben, ich kann seine Angst spüren, dennoch ist er er und ich bin ich. Das ist grundlegend. Aber den meisten Menschen gelingt es nicht, das zu machen: Entweder man schützt sich, indem man eine Mauer um sich herum baut, dann ist man nicht mehr im Kontakt mit dem anderen, oder man macht die Türen auf und ist in einer vereinigenden Sympathie, in der es einem nicht mehr gelingt, einen Unterschied zwischen sich und dem anderen zu machen. In dem Augenblick kann man dem anderen nicht mehr helfen. - Ich glaube, dass das ein Punkt ist, an dem man insbesondere in der Praxis von Zazen arbeiten kann, indem man die Dinge spürt, sich aber nicht mit dem identifiziert, was man spürt: Es gibt einen Knieschmerz, aber ich bin nicht dieser Schmerz. Das ist schwieriger bei anderen als bei Kleinigkeiten bei mir selbst. Ja. Aber wenn man eine gute Übung in dieser doppelten Bewegung hat, sich öffnen und sich nicht identifizieren, ist es viel einfacher. Ich bin auch Therapeut. Anfangs hatte ich, wenn Patienten
angefangen haben zu weinen, das große Bedürfnis, auch zu weinen.
Ich musste mich sehr anstrengen, nicht zu weinen. Heute gelingt es mir,
eine gute Distanz zu habe, nicht indifferent zu sein, aber mich auch nicht
mit dem anderen zu identifizieren. Ich glaube, das ist eine Frage von
Training. ------- Ich habe eine Frage zum Ego ohne Substanz und zur Verantwortung. Man könnte sie so formulieren: Hat eine Welle Mitgefühl? – Du hast vorhin Zustände beschrieben, mit denen wir uns harmonisieren. Das Ego oder das Bewusstsein kommt und geht und verschwindet auch wieder. Was sie verbindet ist Erinnerung. Aber wo ist der Platz für Mitgefühl? Damit Mitgefühl entsteht, muss ein Bewusstsein für den anderen da sein. Mitgefühl impliziert ein persönliches Bewusstsein. Mitgefühl haben heißt, sich jemand anderem zuwenden. Dazu muss ein anderer da sein. Wenn es kein eigenes Bewusstsein gibt, gibt es kein Bewusstsein für andere. Dann kann man nicht von Mitgefühl sprechen. Es gibt Wellen, die Schiffe in die Tiefe reißen, und es gibt Wellen, die einen Ertrinkenden ans Ufer spülen und ihn auf diese Weise retten. Es gibt Wellen, die überfluten, und Wellen, die retten. Aber es ist klar, dass die Wellen keine Absichten haben. Im Mitgefühl gibt es jedoch eine Absicht. Da ist das Bewusstsein für den anderen und des Leidens des anderen. Man versetzt sich in seine Lage, man spürt nicht nur Empathie, sondern versucht auch, mit Weisheit zu handeln, um ihm zu helfen. Mitgefühl benötigt Weisheit, also Überlegung. Warum stellst du diese Frage? Wenn man sagt, dass das Ego keine Substanz hat, frage ich mich, wo Mitgefühl stattfindet. Man benötigt doch keine Substanz, um mitfühlend zu sein. Ich glaube sogar, dass man nicht mitfühlend sein könnte, wenn das Ego Substanz hätte. Wenn das Ego etwas Substanzielles wäre, würde es bedeuten, dass es aus sich selbst heraus existierte, autonom. Es wäre gegenüber dem Kontakt mit anderen und mit der Welt verschlossen. Man kann Mitgefühl haben, weil man nicht zu ist, weil man offen ist, weil man in Abhängigkeit zu anderen steht. Wir können zumindest für einige Augenblicke unsere ichbezogene Position verlassen, uns selbst vergessen und uns in die Lage des anderen versetzen. Das bedeutet, dass das Ego nicht substanziell sein kann. Es kann nicht in sich geschlossenen sein, nichts, das durch sich selbst besteht. Es muss etwas sein, das offen für die Beziehung ist. Im Gegensatz zum Ego sieht das wahre Selbst ein, dass man nur durch Beziehungen existiert. Genau dies begründet das Mitgefühl. Die Frage zeigt, dass es im Westen immer noch schwierig ist, die Leerheit zu verstehen. – Nicht nur im Westen übrigens: Nagarjuna hatte selbst dieses Problem mit seinen Gegnern. Weil er auf der Leerheit beharrte, nannten seine Gegner ihn einen Nihilist. Er aber sagte: „Ihr versteht nicht, dass Leerheit wechselseitige Abhängigkeit bedeutet und nicht das Nichts.“ Wenn man sagt, das Ego sei ohne Substanz, bedeutet dies nicht, dass es kein Ego gäbe. Es heißt, dass das Ego nur in Beziehungen existiert. Wenn man sich dessen bewusst wird, kann man eine Funktionsweise des Egos entwickeln, die weniger egozentrisch, weniger egoistisch ist. Wenn das Ego Substanz hätte, würde man, wenn man dumm wäre, sein ganzes Leben lang dumm bleiben. Mit einem substanziellen Ego wäre Veränderung, wäre Erwachen nicht möglich. Gerade weil das Ego keine Substanz hat, ist alles möglich, und man kann aus der Illusion zum Erwachen gelangen. Ein substanzielles Ego kann sich nicht ändern, es kann nicht erwachen. Es würde bleiben wie es ist, und ein Dummer würde dumm bleiben. Täuscht euch nicht über die Bedeutung der Nicht-Substanz des Egos. Man kann sagen, dass es eine Funktion des Geistes ist, die in immerwährendem Werden, in ständiger Veränderung ist, die erwachen oder sich etwas vormachen kann. Wenn man zum Beispiel Zazen praktiziert, ist man in einem Zustand, in einer wechselseitigen Verbindung, die das Eintreten des Erwachens ermöglicht. -------- Es gibt Menschen, die von Natur aus ein mitfühlendes Wesen haben. Sie strahlen Wärme aus und geben einem sofort das Gefühl, dass man angenommen ist. Ich empfinde das als sehr hilfreich und bin in vielen Situationen auch sehr dankbar dafür. Kann man sich durch Zazen in dieser Richtung weiterentwickeln oder gibt es da auch eine Grenze? Ich denke, es gibt da auch bestimmte genetische Voraussetzungen. Nein, es gibt da keine genetischen Grenzen. Aber es gibt psychologische Grenzen, und an ihnen kann man durch die Praxis von Zazen arbeiten. Du sprachst von Angenommen-Werden. Ich glaube, das erste, was man durch die Praxis von Zazen machen kann, ist sich selbst annehmen. Menschen, die sich nicht so akzeptieren, wie sie sind, neigen natürlich dazu, andere unmittelbar zu beurteilen. Sie behandeln die anderen wie sich selbst. Also schlecht. Ja. Ich glaube, dass es sehr helfen kann, diese Einstellung zu ändern, wenn man in Zazen lernt, sich wie in einem Spiegel zu betrachten und sich zu akzeptieren. Das heißt nicht, dass man übermäßig selbstzufrieden mit sich sein sollte, sondern einfach: ‚Im Augenblick bin ich so. Ich akzeptiere, so zu sein.’ Das erlaubt es oft, sich zu entwickeln. Eine andere Möglichkeit, dieses Mitgefühl, diese Fähigkeit zum Wohlwollen anderen gegenüber zu entwickeln, besteht darin, zu beobachten, was in unserem Geist passiert, wenn wir jemandem begegnen. Was sind die Hindernisse, dass wir den anderen akzeptieren? Wenn diese Beobachtung nicht natürlich ist, bedarf das einer gewissen Übung. ‚Was für ein Prozess bewirkt, dass man sich ein Urteil bildet, sobald man jemand anderen sieht?’ Wenn man die Gewohnheit hat, das zu betrachten, kann man lernen, das Urteil fallen zu lassen, sobald es auftaucht, und die Überraschung bevorzugen. Denn man kennt die Person nicht genau, aber man hat sofort das Bedürfnis, einen Eindruck zu haben. Man möchte wissen, ob die Person gut für einen ist oder nicht. Das ist sehr instinktiv. Also bemüht man sich, sehr schnell zu urteilen. Ich glaube, dass es interessant ist, das Risiko einzugehen, den anderen nicht zu kennen und Freude daran zu haben, den anderen so zu entdecken, wie er ist, indem wir unser Urteil, unseren Eindruck von ihm zurückstellen. Normalerweise verhalten wir uns so, als würden wir mit farbigen Brillengläsern spazieren gehen, und sehen die anderen immer durch diese farbigen Gläser hindurch – auch uns selbst. Kodo Sawaki sagte, dass Zazen darin besteht, diese bunten Brillengläser abzusetzen – die Gläser, die durch unser Karma, unsere Ängste, unsere Wünsche, unsere Erwartungen eingefärbt sind. Die Betrachtung in Zazen macht uns mit all diesen Prozessen vertraut. Man sieht sehr gut, wie man funktioniert. Man lernt sich also selbst kennen, wie man im Allgemeinen funktioniert. Dann kann man in der Begegnung mit dem anderen sehr schnell entdecken, was in einem selbst geschieht, und sich sagen: „Das bin ich.“ Und das stellt man zurück. Man bemüht sich, in einem offenen Geist zu bleiben, um den anderen zu entdecken, so wie er oder sie wirklich ist. Ein weiterer Aspekt ist, dass man, selbst wenn man sich
in einer Begegnung darüber klar wird, dass der andere eine schlechte
Absicht hat, sofort denken sollte, dass diese Person diese Absicht nicht
aufgrund ihrer Natur hat. Das ist nicht genetisch. Das ist eine Konditionierung.
Das Karma dieser Person bewirkt, dass sich in diesem Augenblick diese
Haltung manifestiert. Es ist wichtig, darauf zu vertrauen, dass es jenseits
dieser karmischen Konditionierung, die keine Substanz hat, die nichts
Festgelegtes ist, eine Person gibt, die von der Buddha-Natur beseelt ist.
Man muss alle als Buddha ansehen. Das hilft, zu akzeptieren.
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