In der Zeremonie heute morgen
werden wir das Kannon Gyo rezitieren. Es ist ein Auszug aus dem
Lotus-Sutra.
Kannon ist in Sanskrit Avalokiteshvara,
der Bodhisattva des Mitgefühls. 'Avalokiteshvara' wurde im
Chinesischen und Japanischen auf zwei Weisen übersetzt.
Im Hannya Shingyo heißt
er 'Kanjizai', derjenige, der die vollkommene Freiheit sieht,
derjenige, der diese Freiheit durch das Verständnis von Ku,
der Leerheit, realisiert. – Leerheit bedeutet nicht Nicht-Existenz
oder Nichts, sondern nichts Substantielles, nichts, das aus sich
selbst heraus existiert, nichts, das allein existiert. Es ist
das Erwachen Buddhas zur Wechselbeziehung aller Existenzen. Das
beinhaltet, dass man nichts auf endgültige Weise ergreifen
oder besitzen kann. Aber wir können diese Wechselbeziehung
tief leben und uns so in Einklang mit der kosmischen Ordnung,
mit dem Dharma, befinden, ohne Gier, mushotoku, praktizieren,
indem wir uns völlig auf jede Praxis, auf jede Handlung konzentrieren
und uns von der Praxis von Zazen, von der Praxis des völlig
Samu aufsaugen lassen. So erfahren wir die Befreiung, die Befreiung
von der Anhaftung an uns selbst, die Befreiung von der Anhaftung,
von einer engen, begrenzten, egoistischen Vorstellung bezüglich
unserer selbst und realisieren unser wirkliches Selbst, das keine
Wesenheit, sondern eine Seinsweise in Einheit mit allen Wesen
ist.
Dies zu sehen ist Kanjizai, die
Quelle der Weisheit. Das impliziert unmittelbar, sich mit den
anderen verbunden zu fühlen, Empathie für sie zu fühlen.
Je freier man von sich selbst ist, je freier man von den Vorstellungen,
die man sich über sich selbst macht, ist, desto offener kann
man für andere sein.
An diesem Punkt wird Kanjizai
zu Kanzeon, zu demjenigen, der klar die Leerheit all seiner geistigen
Konstruktionen sieht und der verfügbar wird, die Klagen und
Leiden der Welt zu hören. Das ist die Bedeutung von Kanzeon.
('‚On' sind die Klänge.) – In unserer Beziehung
zur Welt nutzen wir im Wesentlichen zwei Sinnesorgane, das Sehen
und das Hören. Klar zu sehen, ist die Quelle der Weisheit.
Wir sprechen immer davon, die
Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist. Aber wenn wir nur unsere
Sehfähigkeit entwickeln, laufen wir Gefahr, eine trockene
Weisheit zu entwickeln. Wir sehen dann sehr schnell die Fehler
und Irrtümer anderer, neigen dazu, schnell Urteile zu bilden
und Menschen in Schubladen zu stecken.
Oft ist es besser, seine Augen
zu schließen und seine Ohren zu öffnen, um den Ausdruck
des menschlichen Leids zu hören. Dies zeigt uns Kanzeon,
Kannon.
Im Hannya Shingyo lehrt Kannon,
Kanjizai, die Weisheit für Shariputra. Es ist sehr wichtig
zu verstehen, dass es der Bodhisattva des Mitgefühls ist,
der die Weisheit lehrt. Deshalb ist das Hannya Shingyo das zentrale
Sutra des Mahayana. Es prägt unserem Geist tief ein, dass
es keine wirkliche Weisheit ohne Mitgefühl gibt. Wir müssen
die Fähigkeiten zu sehen und zu hören in gleichem Ausmaß
entwickeln.
Wenn ihr die Übersetzung
des Kannon Gyo lest, könnt ihr den Eindruck haben, es gehe
darum, die Hilfe von jemand anderem anzurufen. Und es stimmt,
dass Menschen in ihrem Leid manchmal das Bedürfnis haben,
eine höhere Kraft um Hilfe anzurufen. Kinder rufen nach ihrer
Mutter, Erwachsene rufen nach Gott: „Bitte hilf mir!“,
„Rette mich!“ Buddhisten rufen nach Kannon.
Aber Kannon existiert nirgends,
außer in jedem von uns. Das bedeutet, dass wir diese Dimension
des Mitgefühls in uns selbst lebendig und wirksam machen
müssen. Jede, jeder, muss Kannon werden und die Fähigkeit
entwickeln, unterschiedslos den anderen wie sich selbst zu helfen.
Die Sangha ist der Ort, wo wir dies entwickeln, praktizieren und
erfahren können.
Manchmal werde ich von Leuten
gefragt: „Wie kann ich feststellen, ob ich Fortschritte
auf dem Weg gemacht habe?“ Wenn ihr euch diese Frage selbst
beantworten wollt, fragt euch, wie es um eure Praxis des Mitgefühls
steht.
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