Im Shusho-gi heißt es: „Die vollständige
Klärung der Bedeutung von Geburt und Tod ist die wichtigste
Frage für alle Buddhisten.“ Es ist bestimmt die wichtigste
Frage für alle Menschen.
Wenn wir geboren werden, ist es kein Ich, das
geboren wird, sondern fünf Aggregate fügen sich zusammen
und konstituieren diesen KörperGeist. Dieser KörperGeist
lernt zu sprechen. Wenn er in einer menschlichen Gemeinschaft
auf die Welt gekommen ist, kommuniziert er in einer bestimmten
menschlichen Sprache. Nach und nach baut er die Vorstellung eines
Ichs, eines Egos, auf und klammert sich daran.
Wir klammern uns an eine persönliche Identität.
Wir glauben, Urheber unserer Gedanken und Gefühle zu sein.
Wir glauben, weil es Gedanken und Gefühle gibt, gebe es auch
ein Ich, das denkt und empfindet. Aber dieses Ich ist nur ein
Glaube. Weil dieser völlig unsicher ist, verbringt er seine
Zeit damit, sich selbst stärken zu wollen. Man konstruiert
sich selbst nach und nach, indem man sich selbst als von anderen
unterschieden denkt. Man beginnt, sich anderen und der Umwelt
gegenüber zu stellen. Man beginnt zwischen dem zu trennen,
was man für sich selbst hält, und dem, was man nicht
für selbst hält. - So entwickelt sich dieses geistige
Konstrukt.
Weil man begonnen hat, den Rest der Welt von
dem Selbst auszuschließen, beginnt man das Gefühl zu
entwickeln, dass einem etwas fehlt. Und natürlich fehlt uns
all das, was wir von unserem Selbst ausgeschlossen haben. Es fehlt
uns der Sinn für unsere Einheit mit dem Universum. Das wieder
zu finden bemühen wir uns verzweifelt unser ganzes Leben
lang. Das wird sogar der Sinn der Praxis des Weges.
Wie können wir über diesen Schmerz
hinaus gehen, uns getrennt, begrenzt und sterblich zu fühlen?
Weil man geboren wurde, muss man sterben. Wenn man etwas erhalten
hat, muss man es letztlich verlieren. Aber es ist für ein
Ego schwierig, den Verlust zu akzeptieren, den Tod zu akzeptieren.
Die meisten Menschen vermeiden es, daran zu denken, indem sie
sich alle möglichen Illusionen aufbauen. Den Weg zu praktizieren
bedeutet im Gegensatz dazu mit dieser Wirklichkeit völlig
vertraut zu werden, indem wir realisieren, dass unser Leben eine
unablässige Folge von Geburt und Tod ist.
Der Prozess von Geburt und Tod geschieht tausend
mal pro Minute in unserem Körper und in unserem Geist. Eine
Wahrnehmung taucht auf und verschwindet, ein Gedanke, eine Erinnerung,
ein Gefühl taucht auf und verschwindet. Wenn man Zazen praktiziert,
lernt man das willkommen zu heißen, was auftaucht, ohne
sich an es zu klammern. Das vergehen lassen, was verschwindet,
ohne das Vergehen zu bedauern, ohne auf irgendetwas zu verweilen.
Den Sinn von Leben und Tod zu erhellen bedeutet
zu lernen, Leben und Tod von Augenblick zu Augenblick zu leben.
Das ist die Wirklichkeit, die wir mit allen Wesen teilen. Wenn
man sie akzeptiert und tief lebt, löst sich die Täuschung
eines getrennten Egos auf. Man hört auf, in seinem eigenen
geistigen Konstrukt gefangen zu sein, und öffnet sich für
das unbegrenzte Leben, das ohne Anfang und ohne Ende ist. Dann
findet man schließlich seine angeborene Einheit mit dem
Dharma wieder und findet sich so auf ganz natürliche Weise
jenseits von Mangel oder Überfluss. Hier und jetzt auf dem
Zafu sitzend: Was fehlt? Was ist zu viel?
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