Während "Zen sein" ein Ausdruck
dafür geworden ist, der einen in allen Umständen gelassenen
Geist bezeichnet, weist Zen auf auf das hin, was sich in keinem
Begriff fassen lässt und was kein Wort definieren kann.
Man spricht vom Zen oft als von einer Praxis des Mitgefühls,
aber diejenigen, die auf Anerkennung und Vorteile aus sind, sind
oft viel konzentrierter als Zen-Schülerinnen und -Schüler,
ganz zu schweigen von der Konzentration von Dieben und anderen
Kriminellen. Auf was muss man sich konzentrieren? Welche Richtung
müssen wir einschlagen?
Wenn Gelassenheit und Konzentration wichtige Aspekte unserer Praxis
sind, so sind sie doch weit davon entfernt, deren Bedeutung auszuschöpfen.
Es ist also besser, sich an die Quelle des Zen zu halten, an die
Praxis der sitzenden Meditation, an dhyana, von der sich das Wort
Zen sich herleitet und aus der Buddha seine Weisheit schöpfte.
Aber was bewegte Buddha, sich auf diesem Weg des Mitgefühls
zu engagieren, wenn nicht sein Geist des Mitgefühls, der
ihn dazu brachte, einen Weg zu suchen, der den Wesen hilft, ihre
Leiden zu verlassen. Am Anfang stand also das Mitgefühl,
dann kam der Entschluss, sich zu setzen und zu meditieren. Das
Mitgefühl kehrte wieder mit dem Gelübde, die Frucht
des Erwachens mit allen Wesen zu teilen. Mitgefühl kann das
A und O unserer Bemühung sein, Zen zu beschreiben. Sie wird
in den Gesängen angesprochen, die das Zazen umrahmen: "Gewand
der großen Befreiung, jetzt realisiere ich das Erwachen
Buddhas, um alle Wesen zu befreien", heißt es im Kesa-Sutra.
Das Hannya Shingyo beginnt: "Der Bodhisattva des Mitgefühls
hilft durch seine Praxis der Großen Weisheit allen Wesen,
die leiden." Und schließlich das Gelübde: "Zahllos
sind die fühlenden Wesen, ich gelobe, sie alle zu befreien."
Mitfühlen bedeutet, sensibel für das Leid des anderen
zu sein, ohne sich zu bemühen, sich vor dem Leid zu schützen,
indem man sich sagt, dass man nicht betroffen ist, da die Wesen
aufgrund ihrer Täuschungen leiden würden und ihnen recht
geschehe, wenn sie die Ergebnisse ihres schlechten Karmas ernteten.
Solche Härte zeigt die Arroganz derjenigen, die glauben,
das Leben besser verstanden zu haben als die anderen, und zeigt,
dass sie in Wirklichkeit im eigenen Ego gefangen sind und die
Wirklichkeit unserer völligen wechselseitigen Abhängigkeit
mit allen Wesen völlig verkennen. Auch ist der Geist, der
verurteilt, nicht der Geist von Zazen: Er führt dazu, sich
selbst zu verurteilen, seine Bonno zu hassen und dazu, diesen
Hass auf andere zu projezieren, sobald sie unsere verdeckten Schatten
manifestieren.
Die entgegengesetzte Haltung besteht darin, eine Hypersensibilität
gegenüber dem Leid anderer zu entwickeln, bei der man ständig
von seinen Gefühlen überschwemmt wird, und wirkliches
Mitgefühl - das zu hilfreichem Handeln drängt - mit
Mitleid zu verwechseln, das nur passiv ist und zu einer herablassenden
Haltung führen kann.
Mitgefühl impliziert, die Leidensursachen in sich selbst
zu betrachten, zu sehen, dass jede und jeder von uns die Samen
aller menschlichen Täuschungen in sich trägt. Dies ermöglicht
es, sich den Leidenden nahe zu fühlen und ihnen zu helfen.
Diese Sichtweise nährt den Geist der Großmutter, Robashin,
den Dogen für unverzichtbar hielt, um Erbe des Buddha-Dharma
zu werden. - Sein Schüler Tetsu Gikai konnte, auf Grund dessen,
dass er Robashin noch nicht entwickelt hatte, Dogens Shiho nicht
empfangen.
Mitgefühl ist die aktive Öffnung dem anderen gegenüber.
Sie entsteht aus dem Geist, der zu unserer Ungetrenntheit von
allen Existenzen erwacht ist. Sie ist also bereits Erwachen, Ausdruck
der Buddha-Natur, die sich realisiert, wenn die egoistische Täuschung
ihren Zugriff lockert und erlaubt, sich wirklich solidarisch mit
den anderen zu fühlen und ihnen helfen zu wollen.
Oft werde ich gebeten, Mitgefühl mit Liebe zu vergleichen.
In der Liebe ist man immer zu zweit, hofft aber, nur noch eins
zu sein, und verzweifelt daran, es nicht erreichen zu können.
Deshalb gibt es so wenige glückliche Liebende. Im Mitgefühl
ist man gleichzeitig völlig man selbst und man wird der/die
andere, in der Zeit, in der man sich an seine Stelle begibt, fühlt,
was er/sie fühlt, jedoch ohne sich von seinem/ihrem Karmastrom
vorwärts treiben zu lassen, denn es geht darum, die Mittel
zu entwickeln, die es ermöglichen ihm/ihr zu helfen, sich
von seinen/ihren Leiden zu befreien. Liebe ist of die Erwartung,
vom anderen wunschlos glücklich gemacht zu werden. Mitgefühl
erwartet keine Gegenleistung.
Die höchste Liebe ist die bedingungslose Liebe. Sie kommt
dem Mitgefühl nahe, aber geschieht nicht im Namen Buddhas.
Mitgefühl ist die Aktivität des Erwachens.
Liebe ist oft von kurzer Dauer. Da das Mitgefühl ohne Gegenstand
ist, ohne Schwierigkeiten, können sich seine Wohltaten unablässig
auf alle Wesen ausbreiten.
Mitgefühl bedeutet nicht, mit dem anderen zu verschmelzen,
sondern solidarisch zu sein jenseits der Gefühle von Liebe
und Hass. Indem sich Mitgefühl wünscht, dass die anderen
von ihren Leiden befreit werden, ist es ein gutes Mittel sowohl
gegen Hass wie auch gegen Gleichgültigkeit.
Mitgefühl ist Weisheit des Herzens, die den Bodhisattva gemeinsam
mit allen Wesen auf den Weg des Erwachens bringt. Wird es entwickelt,
wird es wie der Körper Kannons, die über viele Augen
und Hände verfügt, um den anderen zu helfen, die nicht
mehr als andere wahrgenommen werden, sondern als Ausdruck der
gleichen Wirklichkeit, die wir alle teilen.
Der Bodhisattva ist zum Held des Mahayana, der Schule des Großen
Fahrzeugs geworden, dessen AnhängerInnen oft denjenigen,
die ihm nicht angehören und die als AnhängerInnen des
Hinayana gelten, vorwerfen, dass ihnen Mitgefühl fehlt. Dies
ist falsch: Die Lehren des Theravada machen aus dem Mitgefühl
eine zentrale Praxis:
Das rechte Denken, zweiter Aspekt des achtfachen Pfades, ist das
mitfühlende Denken allen fühlenden Wesen gegenüber.
Und unter den vier unbegrenzten Praktiken, die der alte Buddhismus
empfiehlt, betrifft die Hälfte das Hegen von Mitgefühl
und Wohlwollen allen Wesen gegenüber, unabhängig von
unserer Beziehung ihnen gegenüber und unabhängig von
ihrem Verhalten uns gegenüber, sei es freundschaftlich oder
feindlich. Es ist also ungerecht zu glauben, Mitgefühl sei
eine Spezialität des Mahayana und des Bodhisattva.
Alle Schülerinnen und Schüler Buddhas praktizieren die
vier Edlen Wahrheiten, die Ausdruck seiner mitfühlenden Antwort
auf die Hoffnung der Menschen sind, die Leiden lösen und
ein glückliches und freies Leben führen zu können.
Darauf ist die Weisheit Buddhas durch den Geist des Mitgefühls
gerichtet. Im Metta-Sutra, einem der Klassiker des Theravada,
sagt Shakyamuni: "So, wie eine Mutter unter Einsatz ihres
Lebens ihr einziges Kind schützt, so muss man mit einem grenzenlosen
Geist alle Lebewesen, die ganze Welt lieben. Grenzenlos, mit wohlwollender,
nie endender Güte. Ob man steht oder geht, sitzt oder liegt,
solange man nicht erwacht ist, muss man diesen Gedanken hegen.
Dies wird die höchste Art zu leben genannt."
Achtzehn Jahrhunderte später entwickelte Meister Dogen die
gleiche Lehre bezüglich rigyo, dem wohltätigen Handeln,
als einer der vier großen Praktiken des Bodhisattva, das
sich auf alle Wesen unabhängig von ihrem Status und ihrem
Verhalten ihm gegenüber bezieht.
Aber wenn alle SchülerInnen Buddhas - einschließlich
des Arhat - Mitgefühl praktizieren, so fehlt ihnen doch machmal
das Große Mitgefühl, das das Ideal des Bodhisattva
ist und darin besteht, alle Wesen den Vortritt zu lassen. Dieses
Große Mitgefühl kann nur in Erscheinung treten, wenn
wir uns von unseren Anhaftungen und unserem Egoismus befreit haben,
dank einer tiefen Einsicht der Leerheit nicht nur des eigenen
Egos, sondern aller Existenzen. Denn solange man glaubt, dass
es Wesen gibt, die gerettet werden müssen, kann man weder
sich selbst noch die anderen wirklich retten, denn man bleibt
gefangen in der dualistischen Täuschung und dem Glauben an
die Realität eines Egos.
Der Bodhisattva jedoch, der seinen Wunsch aufgibt, das endgültige
Nirvana zu erlangen, und sich zu keinem Zeitpunkt von den anderen
trennt, stellt Nirvana nicht mehr Samsara gegenüber und realisiert
so eine tiefe Befreiung. Er realisiert hier und jetzt das wirkliche
lebendige Nirvana, jenseits aller dualistischen Sichtweisen, das
auch das Nirvana ohne feste Form genannt wird.
Der Weg des Zen besteht nicht darin, sich von der Welt zu trennen,
sondern darin, mit und für die anderen zu praktizieren. Aber
selbst wenn man wiederholt, dass der Bodhisattva das Wohlergehen
der anderen vor sein eigenes stellt, ist er in Wirklichkeit in
Kontakt mit der Soheit, in der es weder ein vor und nach gibt,
noch einen Unterschied zwischen sich und anderen. Von diesem tiefsten
Verstehen angetrieben, sucht er die geeigneten Mittel, um den
anderen zu helfen, sich selbst und andere zu befreien. Dies macht
er im Geist von Mushotoku, ohne Anerkennung zu erwarten und ohne
Macht über die anderen auszuüben: Die Kraft der Weisheit
und des Mitgefühls, die durch ihn wirkt, gehört ihm
nicht, es ist nicht er, der die anderen rettet, sondern der WEG,
die Praxis selbst, die weder ihm noch den anderen gehört.
Sein Mitgefühl bringt ihn einfach dazu, im Dienst dessen
zu stehen.
Eines der Charakteristika des Mitgefühls ist die Kreativität
hinsichtlich der geeigneten Mittel, um das Erwachen und die Befreiung
jedes/jeder einzelnen zu fördern. Deshalb bedarf Mitgefühl
der Weisheit. Beide sind vereint wie die Hände in Zazen.
Zazen selbst realisiert die Nicht-Getrenntheit von einem selbst
und den anderen, wenn unsere Hirngespinste aufhören und sich
ein weiter, verfügbarer Geist realisiert.
Als Shakyamuni in der Morgendämmerung das Erwachen realisierte,
sagte er: "Ich realisiere das Erwachen mit allen Wesen."
Dieses "mit" ist die Harmonie, die sich vom Herzen aus
realisiert (shin kokoro). Es ist das gleiche, das Meister Dogen
doji-jodo nannte, das gleichzeitige Realisieren des Weges jenseits
jeder bewussten Bemühung.
Aber wenn dies auf einer nicht sichtbaren Ebene aufgrund der wechselseitigen
Durchdringung aller Phänomene geschieht, ist es in der Praxis
erforderlich, um dem anderen zu helfen, sich von seinen eigenen
Anhaftungen zu lösen, denn sonst sehen wir den anderen nicht,
wie er ist, sondern nur durch den Filter unserer eigenen Projektionen.
Das umfasst auch die Vorstellung, sein eigenes Verständnis
mit den anderen zu teilen. Wir müssen realisieren, dass es
letztlich nichts zu lehren gibt und niemanden, der lehrt, niemand,
der rettet, und niemand, der gerettet wird.
Das Vertrauen, dass alle Wesen bereits und seit immer Buddha-Natur
sind, ermöglicht die Verwirklichung des Gelübdes, alle
Wesen zu retten. Dieses Vertrauen stützt das Große
Mitgefühl. Alle Paramita oder Praktiken des Bodhisattva drücken
dies im Handeln aus: sich dem Weg geben und allen Wesen geben.
Der Geist des Fuse ist erster Ausdruck des Mitgefühls, das
voller Großzügigkeit handelt. Die Praxis der Gebote
ist nicht Folge der Angst vor einem schlechten Karma oder des
egoistischen Wunsches, Verdienste anzuhäufen, sondern Folge
des Mitgefühls, das es vermeidet, Leidensursachen zu schaffen,
und für das Wohl aller Wesen handelt. Aufgrund von Mitgefühl
ist es nicht möglich, zu töten, zu stehlen oder zu lügen.
Um Großes Mitgefühl auszuüben mobilisiert man
eine große Energie und benutzt eine unendliche Geduld.
Selbst wenn alle Wesen leer von einem Ego sind, kümmert man
sich mit Mitgefühl darum. Dieses Mitgefühl richtet sich
zugleich auf sich selbst wie auf die anderen und stimmt mit der
Empfehlung Jesus überein, seinen nächsten wie sich selbst
zu lieben, denn - wie Meister Deshimaru oft sagte - ohne im Normalzustand
zu sein, kann man nicht wirklich den anderen helfen. Nicht unsere
Absicht hilft, sondern unsere Realisierung, der WEG, der sich
durch uns ausdrückt.
In der Gegenwart, in der die wechselseitige Abhängigkeit
aller Wesen planetarische Formen angenommen hat, ist offenkundiger
als je zuvor, dass die kollektive Befreiung von den Leidensursachen
nicht von der inneren Befreiung von all dem getrennt werden kann,
das unsere egoistischen Haltungen konditioniert. Aggressivität
und Gewalt zu kontrollieren, ist ein grundlegendes Problem der
Menschheit geworden. Die beste Methode hierzu besteht darin, zur
wirklichen Natur unseres Lebens zu erwachen, die Einheit mit allen
Wesen ist und nicht etwas Begrenztes, ständig Bedrohtes,
das es vor allen und gegen alle zu verteidigen gilt.
Die Praxis des Großen Mitgefühls ist zugleich Samen
und Frucht dieser notwendigen Befreiung. Die uns umgebende Welt
spiegelt unseren inneren Geist: Wenn wir hassen, gibt uns die
Welt Hass zurück, wenn wir lieben, gibt uns die Welt Liebe
zurück. Wenn unser Geist von Mitgefühl geleitet wird,
bestimmt er unsere Worte und Taten und ändert die Welt um
uns herum.
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