Der Geist des Erwachens hat seinen
Ursprung in der Bewusstwerdung der Unbeständigkeit aller
Gegenstände unseres Anhaftens sowie unseres eigenen Egos.
Solange man am Ich und Mein hängt, kann der Geist des Erwachens
sich nicht entwickeln, und selbst wenn man Zazen macht und glaubt,
demWeg Buddhas zu folgen, bleibt man außerhalb.
Tatsächlich kann man fortfahren, Zazen wegen seiner positiven
Auswirkungen auf unser Wohlergehen zu praktizieren. Aber dann
ist die Wurzel des gierigen Geistes, der sowohl Anhaftung als
auch Hass auf alles Gegenläufige hervorruft, nicht abgeschnitten,
und man kehrt dem Weg des Erwachens den Rücken zu. Wie also
den Geist des Erwachens erzeugen, wenn nicht durch eine tiefe
Praxis von Zazen, von einem Zazen, in dem man sich nicht damit
zufrieden gibt, seine Konzentration zu kultivieren, sondern in
dem man azeptiert, klarsichtig in sich selbst zu schauen und seine
Täuschungen zu erhellen.
Dafür bedarf es aber eines ausreichenden Vertrauens in den
Weg, für das man aber noch nicht wirklich die Erfahrung hat.
Hier greift oft die Begegnung mit dem spirituellen Freund ein,
der Person, die schon weiter auf dem Weg ist, die uns auf ihn
geleiten und auf ihm begleiten kann. Das Beispiel und die Lehre
Buddhas und der Dharmavorfahren haben ebenfalls diese Funktion.
Dennoch muss der Weg von jedem und jeder selbst verwirklicht werden
und nichts kann die persönliche Erfahrung ersetzen: Es reicht
nicht, zu glauben. Wenn man sich in der Tiefe seines Seins der
Unbeständigkeit all dessen bewusst geworden ist, was man
mag und haben möchte, und der Substanzlosigkeit dessen, was
man gewöhnlicherweise für sein Ich hält (und was
nichts anderes ist, als eine Idee, die man sich von sich selbst
macht), dann kann sich der Geist des Erwachens entwickeln. Das
bedeutet eine völlige Umwälzung der Prioritäten
in unserem Leben. Selbst wenn man die Welt nicht verlässt
und sich nicht von seiner Familie trennt, wird Praxis und Studium
des Weges das allerwichtigste, mit der gleichen Dringlichkeit
als wolle man ein Feuer auf seinem Kopf löschen. All unsere
Energie ist kanalisiert in Richtung der Praxis und es bedarf nicht
einmal einer besonderen Anstrengung dafür.
Aber dann kann es passieren, zuerst uns selbst aus unseren Leiden
und Anhaftungen zu befreien und darüber die fühlenden
Wesen zu vergessen, die ebenfalls leiden. Dies ist die Haltung
derjenigen, die man die Zuhörer" nennt. Sie sind
überzeugt von der Richtigkeit der vier Edlen Wahrheiten,
die der Buddha lehrte, und bemühen sich, die Befreiung durch
die Praxis des Achtfachen Pfades zu erlangen. Sie haben einen
Geist, der die Motivation zu erwachen über alle anderen menschlichen
Wünsche stellt. Aber ihnen fehlt, wie die großen Meister
des Mahayana hervorgehoben haben, das große Mitgefühl,
und daher ist ihr Erwachen begrenzt. Nicht, weil es schlecht ist,
wenig Mitgefühl zu haben, sondern weil dies Zeichen eines
Mangels im Verständnis und in der Verwirklichung der wahren
Natur unserer Existenz ist und somit schließlich ein Mangel
an Weisheit.
Wenn man klar sieht, dass nicht nur all das, was unsere Persönlichkeit
ausmacht, ohne Substanz ist, sondern auch, dass wir nur in wechselseitigen
Abhängigkeitsbeziehungen mit allen Wesen existieren, dann
ist es nicht mehr möglich, gleichgültig in Bezug auf
das Leiden der anderen zu sein. Ihr Schmerz wird der unsere und
Sinn unserer Praxis wird es unsere Solidarität mit ihnen
vollständig zu aktualisieren. Dies ist der Ansatz des Bodhisattva,
der das Gelübde, allen Wesen zu helfen, sich aus ihren Leiden
zu befreien, an die erste Stelle stellt, der aber auch versteht,
dass er dies nur durch seinen eigenen spirituellen Fortschritt
hindurch kann. Daher die drei anderen Gelübde: sich von seinen
Anhaftungen zu befreien, die Unterweisung zu vertiefen und das
Erwachen Buddhas zu verwirklichen.
Selbst wenn der Bodhisattva vorübergehend auf seine eigene
Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten verzichtet hat,
um damit fortzufahren, all denen zu helfen, die sich mit dieser
Welt des Leidens herumschlagen, ist er in Wirklichkeit bereits
befreit, bereits am andern Ufer, dem Ufer des lebendigen Nirvana,
das nicht eine Zuflucht ist, sondern das erwachte Leben in Einklang
mit der letzten Wirklichkeit. Das wird im Shobogenzo Hotsubodaishin
von Meister Dogen dargelegt. Hier eine Zusammenfassung der wesentlichen
Aussagen:
Zusammenfassung des Hotsubodaishin
Es gibt drei Arten des Geistes: den unterscheidenden Geist, den
universellen Geist und den Geist, der das Wesentliche umfasst.
Mit Hilfe des unterscheidenden Geistes erwachen wir zu Bodaishin.
Aber dieser Geist unterscheidet sich von Bodaishin, das darin
besteht, das Gelübde abzulegen, allen fühlenden Wesen
zu helfen, vor einem selbst ans andere Ufer zu gelangen. Nur ein
spirituelles Band zwischen einem selbst und Buddha kann Bodaishin
erwecken, in einer Beziehung I shin den shin, von meinem Herz
zu deinem Herz, was auch Kanno doko genannt wird.
Diejenigen, die zu Bodaishin erwacht sind, bemühen sich mit
ihrem Körper, ihren Worten und ihrem Geist, diesen Bodaishin-Geist
bei den anderen zu erwecken und sie zum Erwachen zu führen.
Zu Bodaishin und zur Praxis-Verwirklichung zu erwachen, bedeutet
jenseits von Täuschung und Satori zu sein, jenseits der drei
Welten der Transmigration und der Verwirklichung der Sravakas
und der Pratyeka Buddhas.
Bodaishin, der Geist, der das Erwachen anstrebt, und das Erwachen
selbst sind zweierlei, aber in der Tiefe gibt es keinen Unterschied
zwischen beiden, denn Bodaishin bedeutet, allen fühlenden
Wesen zu helfen, das Erwachen vor einem selbst zu erlangen. Also
ist Bodaishin dem höchsten Erwachen gleich.
Wenn wir unablässig im Geist den Wunsch behalten, den anderen
zu helfen, das Erwachen vor uns selbst zu verwirklichen, ändert
sich alles, was wir berühren: Erde wird zu Gold.
Zu geben, um das Erwachen der anderen zu fördern, ist die
lebendige Manifestation von Bodaishin.
Bodaishin existiert in den Kausalitäts-Beziehungen. Deshalb
trägt, wenn man Bodaishin erweckt, alles zu seiner Entwicklung
bei. Bodaishin und Satori sind Shoji unterworfen, Geburt und Tod,
Entstehen und Vergehen; wenn das nicht so wäre, könnte
das vergangene Schlechte nicht vergehen und das gegenwärtige
Gute nicht entstehen.
Diejenigen, die Shobogenzo nehanmyoshin
verwirklicht haben, das Auge des Schatzes des wahren Gesetzes,
den heiteren Geist des Nirvana, haben die Wahrheit von Shoji in
jedem Augenblick verwirklicht. Wir dürfen nicht stolz auf
unser Verständnis von Bodaishin sein, von dem wir die Gesamtheit
genauso wenig erfassen können wie Augenblick und Ewigkeit.
Ohne Unterlass läßt uns unser Karma unablässig
transmigrieren. Selbst wenn wir, an Körper und Geist anhaftend,
uns weigern, zum Geist des Erwachens zu erwachen, gibt es kein
Mittel, Geburt, Alter, Krankheit und Tod zu entkommen, denn
auf lange Sicht gehören uns unser Körper und
unser Geist nicht.
Wir Mönche dürfen nicht einmal einen Augenblick vergessen,
dass unser Leben unablässig im Zustand von Geburt und Tod
ist. Wenn wir in diesem Geist geloben, den anderen zu helfen,
vor uns ans andere Ufer zu gelangen, erscheint augenblicklich
das ewige Leben vor uns. Hotsu bodaishin ist das Erwachen eines
Bodhisattvas verwirklichen, das sich von dem eines Buddhas unterscheidet.
Unter denen, die gegenwärtig den Weg praktizieren, gibt es
niemanden, der klar versteht, dass er ein Bodhisattva und nicht
ein Shravaka ist.
Wir müssen schnell das Gelübde ablegen, den anderen
zu helfen, vor uns ans andere Ufer zu gelangen. Das ist Bodaishin.
Weil er die drei Kostbarkeiten schützt, ist der Geist des
Erwachens der Weg des Erwachens. Die drei Kostbarkeiten werden
von Bodaishin geschützt. Wenn dieser Geist entwickelt worden
ist, muss er sorgfältig geschützt werden. So kann ein
Bodhisattva die allerhöchste Weisheit des Erwachens verwirklichen.
Er ist mit den vier Verdiensten des Erwachens ausgezeichnet: Ewigkeit,
Glückseeligkeit, absolutes Selbst und Reinheit.
Wenn man in seiner Praxis nachlässt, riskiert man, Bodaishin
zu verlieren. Genauso geht es, wenn man nicht einem wahren Meister
begegnet und wenn man nicht die wirkliche Unterweisung hört.
Man läuft Gefahr, die Kausalität, das Erwachen, die
Drei Kostbarkeiten, die drei Welten, usw. zu verneinen. Dümmlich
an den fünf Wünschen haftend, wird man unfähig
zukünftig das Erwachen zu verwirklichen.
Zu sagen, man selbst müsse das Erwachen verwirklichen, bevor
man versucht, den anderen zu helfen, ist eine falsche Lehre.
Der Dämon der fünf Aggregate ist die Quelle unserer
Wünsche. Wir dürfen nicht sein Opfer werden und Bodaishin
verlieren.
|