Auschwitz
und Buchenwald – zwei Worte, die für das stehen, was
Menschen einander zugefügt haben und einander – in gewandelter
Form – weiterhin zufügen. Auschwitz und Buchenwald –
zwei Worte, die für die Entmenschlichung des Menschen stehen,
für die Entmenschlichung der Opfer und der Täter.
Form und Ausmaß der Entmenschlichung haben sich im Lauf
der Menschheitsgeschichte gewandelt, aber die Gefahr, andere auf
entmenschlichende Weise zu behandeln und uns damit selbst zu entmenschlichen
besteht weiterhin:
Entmenschlichung zeigt sich in der Gewalt, die wir ausüben.
Diese kann viele Formen annehmen: Auf der persönlichen Ebene
beginnt sie mit verletzender Sprechweise und endet mit Handlungen,
die anderen das Leben nehmen. Auf gesellschaftlicher Ebene zeigt
sie sich in der ungleichen Verteilung der Lebenschancen: Nicht
nur in Deutschland wächst der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung
und die Kluft zwischen Armen und Reichen. Die seit Jahrzehnten
versprochene Gleichheit der Chancen besteht weniger denn je. International
wächst mit der Spekulation um Nahrungsmittel einerseits der
Reichtum, andererseits der Hunger. Die Auseinandersetzungen um
elementare Ressourcen wie z.B. sauberes Wasser nehmen zu.
Entmenschlichung zeigt sich im Wegschauen: Armut und Leid auf
dem Flachbildschirm in Full HD gehören für uns zum Alltag.
Sie stören uns nicht wirklich dabei, von unseren reich gedeckten
Tischen zu essen. Aber Armen und Obdachlosen auf den Straßen
der Großstädte wirklich zu begegnen, sie wirklich zu
sehen, mit ihnen wirklich zu sprechen, ihre Geschichten wirklich
zu hören, dazu sind nur wenige von uns bereit: Das würde
uns zu sehr mit der Wirklichkeit konfrontieren und mit unserer
Angst vor sozialem Abstieg, mit unserer Angst vor Armut, mit unserer
Angst vor Obdachlosigkeit. Das würde zeigen, dass der Luxus,
mit dem wir uns umgeben, nicht dauerhaft gewährleistet ist,
dass die Sicherheit, in der wir uns wiegen, eine Täuschung
ist. Das würde zeigen, dass wir uns in einer nur graduell
anderen Situation befinden als diejenigen, die wir nicht sehen
wollen.
Entmenschlichung zeigt sich auch im wachsenden Nicht-Engagement.
Dieses Nicht-Engagement hat viele Ursachen: Der Druck am Arbeitsplatz
wächst. Ein immer größer werdender Teil unserer
Lebenszeit ist erforderlich, um das Geld zu verdienen, das uns
unseren Lebensstandard (PKW, Eigenheim, Urlaubsreisen, etc.) zu
sichern scheint. – Die verbleibende Restzeit benötigen
wir, um – ggf. auch in buddhistischen Meditationszentren
– wieder die Energie zu schöpfen, die es uns ermöglicht,
diesen Lebensstil fortzusetzen. Wo wären da noch Zeit und
Kraft für das Engagement für andere? Unser Denken dreht
sich so sehr um uns selbst, dass wir völlig übersehen,
dass das Leben auf der Erde eine Einheit bildet und unser individuelles
Wohlergehen untrennbar mit dem Wohlergehen des ganzen blauen Planeten
verbunden ist.
Die Möglichkeit zur Entmenschlichung ist Teil unseres Menschseins.
Vor ihr unsere Augen zu verschließen, macht sie nur noch
gefährlicher. „Der Mensch ist ein gefährliches
Tier und ein wundervolles Tier“, sagte der amerikanische
Umweltaktivist, Schriftsteller und Zen-Meister Peter Matthiessen
auf einem der Retreats im ehemaligen KZ Auschwitz.
Wir sollten uns der Gefahr, die von jedem von uns ausgeht und
die jeden von uns treffen kann (und bereits trifft), bewusst sein
und uns vor ihr fürchten.
Aber Furcht ist keine gute Ratgeberin. Furcht lähmt und
schränkt unsere Handlungsmöglichkeiten ein. Daher sollten
wir uns nicht nur fürchten, sondern auch Furchtlosigkeit
entwickeln:
Wir sollten uns nicht fürchten zu verlieren. Armut und Reichtum
bedingen einander wechselseitig. Wenn wir die Armut in unserem
Land und in anderen Ländern abbauen wollen, müssen wir
den Lebensstil ändern, der uns reich und andere arm macht.
Der damit einher gehende Verlust an dem, was wir als unseren Wohlstand
ansehen, wird mehr als wettgemacht durch einen Zugewinn an Menschlichkeit,
an gelebter Nicht-Getrenntheit.
Wir sollten uns nicht fürchten, Fehler zu machen: Wir sind
Teil des Lebens auf der Erde. Da wir ein Teil sind, können
wir nicht die Position eines außen stehenden Beobachters
einnehmen. Weder können wir die Situation, in der sich das
Leben auf der Erde befindet, objektiv sehen, noch können
wir es in seiner Gesamtheit erfassen. Wir können nicht sicher
sein, dass unser Handeln den von uns gewünschten Erfolg nach
sich zieht. Zu viele Faktoren haben einen Einfluss. Eine Handlungsweise,
die wir für hilfreich gehalten haben, kann sich im Nachhinein
als wenig hilfreich herausstellen.
Wir sollten uns nicht fürchten, Menschen zu sein: Als Menschen
sind wir verletzlich. Uns mit immer dickeren Panzern – psychischen
und militärischen – vor anderen Menschen zu schützen,
mag zwar den Anschein von Unverletzlichkeit erwecken, entfernt
uns aber immer weiter von unserem Menschsein und von unseren Mitmenschen.
Auch hält es uns davon ab, die aus buddhistischer Sicht zentrale
Frage zu stellen: WAS wird verletzt?
Eihei Dogen Zenji, Zen-Meister und Gründer der Soto-Zen-Tradition
in Japan, spricht davon, dass „die Buddhas kraftvoll den
Weg im Schlamm und im Wasser gehen und den Alltag meistern“
und sie deshalb durch nichts eingeschränkt werden.