Ich habe gerade ein Straßenretreat
der Peacemaker Gemeinschaft geleitet. Vier Tage lang habe ich
mit sechs anderen Personen in Hamburg auf der Straße gelebt.
Wir haben gemeinsam meditiert, an Gottesdiensten verschiedener
Religionen teilgenommen, um Nahrung und Geld gebeten, mit Obdachlosen
gesprochen, wir haben Pappkartons und Plastikfolien gesucht, um
uns vor der Kälte der Nacht zu schützen.
Warum macht die Peacemaker Gemeinschaft Straßenretreats,
warum machen wir Retreats in den ehemaligen KZs Auschwitz und
Buchenwald?
Ich leite das Zen-Zentrum in Solingen. Wir haben ein schönes
Dojo, in dem wir uns mehrmals in der Woche zum Zazen treffen.
Aber das Dojo ist (in gewisser Weise) nichts als ein Pappkarton,
ein Schutzraum. Wir gehen in diesen Schutzraum, um in aller
Ruhe (oder Stille) zu meditieren. Nach eineinhalb Stunden verlassen
wir ihn wieder und kehren zurück in den Alltag. Aber auch
in diesem Alltag schützen wir uns davor, bestimmte Dinge
hautnah zu erfahren. Wir sehen z.B. Menschen, die auf der Straße
leben, aber wir erfahren nicht, was es heißt, auf der
Straße zu leben. Eine mehr oder minder dünne Folie
trennt uns von diesem Leben.
Die meisten von uns haben Angst vor Hunger und Kälte,
davor, nicht zu wissen, wann es etwas zu essen gibt und wo sie
die Nacht verbringen werden. Wir haben Angst davor, andere um
etwas zu bitten, Angst davor, abgelehnt zu werden, Angst davor,
dass wir nicht mehr wie gewöhnlich behandelt werden, weil
sich unser gewöhnliches Aussehen verändert hat. An
einem Straßenretreat teilzunehmen heißt, den Schutzraum
zu verlassen, die Folie wegzunehmen und einen Teil des Lebens
zu berühren, der uns Angst macht.
An einem Straßenretreat teilnehmen heißt aber auch,
spirituelle Praxis in den öffentlichen Raum zu tragen,
dorthin, wo Leiden sich sichtbar manifestiert, z.B. an einen
Ort, an dem zwischen 100 und 200 Menschen herumlungern und sich
Drogen spritzen. – Im Buddhismus spricht man von den sechs
Bereichen. Einer von ihnen ist die Hölle. Wer vor dem Drop-In
in Hamburg meditiert hat, hat in einer der gegenwärtigen
Höllen meditiert.