Am Aschermittwoch wird den Gläubigen,
die in einer katholischen Kirche am Morgengottesdienst teilnehmen,
von dem Priester ein Aschekreuz mit den Worten: "Gedenke,
oh Mensch, dass Du aus Staub bist und zum Staub zurückkehren
wirst" auf die Stirn gezeichnet.
Ob wir in die Kirche gehen oder
nicht, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Wir sind alle gezeichnet,
wir alle tragen das Aschekreuz, wir werden alle wieder zu Staub
werden. Der eine früher, die andere später.
Den Zeitpunkt unseres Todes kennen wir nicht. Er kann schon morgen
sein, in einer Stunde, in dieser Minute.
Was machen wir mit diesem Leben, was machen wir mit der Zeit,
die uns bleibt? Die vier Gelübde, die viele Buddhisten ablegen,
sind die Wegweiser, die unserem Leben eine Richtung geben können.
Zahllos sind die lebenden
Wesen. Wir geloben, sie alle zu befreien.
Häufig sehen wir nur uns
selbst, unsere Wünsche, unsere Abneigungen, verhalten wir
uns egoistisch. Wenn wir aufhören, selbstsüchtig zu
handeln, sind wir nicht mehr Gefangene unserer Gier, unseres Hasses
und unserer Unwissenheit. Damit befreien wir nicht nur uns selbst,
sondern auch unsere Mitmenschen - von unserem Egoismus. Die Gelegenheit
dazu bietet sich in (fast) jedem Augenblick.
Das gilt nicht nur für den
Umgang mit unserer Familie, mit Freunden und Verwandten. Unser
Wirtschaftssystem ist Ausdruck von Gier. Während auf der
einen Seite der Reichtum einiger weniger Personen und Länder
immer größer wird, wächst auf der anderen Seite
die Armut vieler Personen und Länder. Alle lebenden Wesen
zu befreien bedeutet auch, die übermäßige soziale
Ungleichheit nicht länger hinzunehmen, sondern mit friedlichen
Mitteln an ihrer Verringerung zu arbeiten, z.B. mit freiwilligem
Verzicht.
Unerschöpflich sind die
leidschaffenden Täuschungen. Wir geloben, sie alle zu überwinden.
Zumeist sehen wir nur Teilaspekte
der Wirklichkeit, haben nicht das Ganze im Blick, täuschen
uns über das, was ist, sehen vieles durch die Brille unserer
Wünsche und Abneigungen. Wir handeln auf der Grundlage dieser
unvollständigen und fehlerhaften Wahrnehmungen und schaffen
viel Leid. Wenn wir genauer hinhören, auch die Untertöne
hören, auch das Unausgesprochene hören, wenn wir genauer
hinsehen, unseren Blick weiter werden lassen, wenn wir auch das
Nicht-Offensichtliche sehen, dann verringern sich unsere Täuschungen
und das Leid, das wir anderen zufügen.
Während ich an diesem Text
schreibe, werden Tausende Kühe sinnlos geschlachtet, weil
sich in der Herde ein Verdacht auf Rinderwahnsinn (BSE) gezeigt
hat. Tausende Schafe werden sinnlos geschlachtet, weil sich ein
Verdacht auf Maul- und Klauenseuche (MKS) gezeigt hat. - Ist es
Ihnen aufgefallen? "Sinnlos geschlachtet" habe ich geschrieben.
Ist es etwa sinnvoll, die Kühe zu schlachten, damit wir sie
essen können? Ob die Kühe getötet werden, damit
wir ihr Fleisch nicht essen, oder ob sie geschlachtet werden,
damit wir ihr Fleisch essen, beides ist sinnloses Töten.
Es würden weltweit wesentlich mehr Nahrungsmittel zur Verfügung
stehen und weniger Menschen verhungern, wenn wir auf den Fleischkonsum
verzichten würden: Aus den sogenannten Entwicklungsländern
werden Sojabohnen exportiert, damit sie an Tiere verfüttert
werden können.
Wenn der Tod der Kühe und
Schafe einen Sinn haben kann, dann nur den, dass wir umgehend
das Leid beenden, das wir durch unseren Fleischkonsum bei Tier
UND Mensch verursachen.
Unermeßlich sind die
Lehren des Lebens. Wir geloben, sie ganz zu durchdringen.
Wenn wir unsere Schutzbrillen
absetzen, die Brillen, mit denen wir unsere Wahrnehmung filtern
und durch die wir nur das zu uns durchdringen lassen, was in den
Rahmen unserer Vorstellungen, Vorurteile und Urteile passt, dann
sehen wir die Wirklichkeit, so wie sie ist. Wir leben und erleben
den gegenwärtigen Augenblick. Das ermöglicht es uns,
aus diesem Augenblick heraus zu handeln, ungeschützt, spontan
und offen.
Oft vereinfachen wir die Dinge,
um nicht eine schwierige, vielleicht sogar widersprüchliche
Situation aushalten zu müssen. "Arbeitslose sind Faulpelze,
die auf Kosten der Allgemeinheit leben" ist so eine Vereinfachung.
"Alle Arbeitslose würden gerne arbeiten, man muss ihnen
nur eine Arbeit verschaffen" ist eine andere Vereinfachung. Die
Wirklichkeit ist komplizierter: Vielleicht hat jemand schon zig
Bewerbungsschreiben geschrieben, zig Absagen bekommen und hat
resigniert, vielleicht hat er oder sie aber auch tatsächlich
keine Lust zu arbeiten. Wenn wir das Leben durchdringen, jeden
Menschen und jede Situation in sich betrachten, lernen wir ständig
dazu. Unsere Weisheit und unser Verstehen wachsen unaufhörlich.
Spontan können wir jemand in den Arm nehmen oder (hilfreich)
in den Hintern treten.
Endlos ist der Weg des Erwachens.
Wir geloben, ihn ganz zu gehen.
Die Erde ist kein Paradies, kein
Schlaraffenland, es gibt kein goldenes Zeitalter. Aber die Welt
ist veränderbar. Wir können sie verändern, indem
wir uns ändern. Wenn wir die negativen Auswirkungen von Gier,
Hass und Unwissenheit mit wachen Augen sehen, wenn wir nicht mehr
unseren Träumen, unseren Vorstellungen folgen, können
wir uns bemühen, die Wirkung dieser drei „Gifte" zu
verringern. Jetzt. Und jetzt. Und jetzt. Der Weg ist endlos, auch
wenn wir nur dieses Leben haben.
Wenn wir die Wirklichkeit so
sehen, wie sie ist, können wir uns nicht nur im Sessel zurücklehnen
oder nur auf dem Meditationskissen verweilen. Es gibt viel zu
tun, endlos viel, um materielles und seelisches Elend zu verringern.
Der Weg ist endlos, das Ziel nicht erreichbar. Das zu sehen, gehört
zum Sehen der Wirklichkeit, so wie sie ist. Weil wir wissen, dass
der Weg endlos ist, entmutigt es uns nicht, wenn wir keine Erfolge
sehen. Wir gehen den Weg weiter, weil es der Weg ist, nicht weil
wir glauben, erfolgreich zu sein. |